Durch den Sommerregen
greifen.
Bevor ich die Tür erreiche, kommt Steffi schon von der Seite und lässt ihn rein.
„Was ist passiert?“, ruft Emma und fällt ihm dabei fast in die Arme.
„Sam hatte einen Unfall mit dem Motorrad. Er ist auf der nassen Fahrbahn weggerutscht.“ Traurig sieht er zu mir, bevor er weiter spricht. „Gabriel saß hinter ihm.“
Oh Gott. Nicht schon wieder. Es ist schon wieder passiert.
„In welches Krankenhaus sind sie gebracht worden?“, fragt Emma weinend. Markus‘ Verhalten lässt keinen Zweifel zu, dass die beiden das nicht unverletzt überstanden haben.
„Sam war wach, als der Rettungswagen kam. Er konnte nur seinen Arm nicht bewegen. Gabriel hat es schlimmer erwischt. Sie konnten ihn aber schnell stabilisieren und in die Notaufnahme bringen. Mehr weiß ich im Augenblick auch nicht.“
Ich muss mich daran erinnern zu atmen. All das habe ich schon mal erlebt.
Irgendwer hilft mir in meine Jacke. Ich glaube, es ist Markus. Steffi drückt mir meine Tasche in die Hand und versichert mir, dass sie sich um die Aufräumarbeiten kümmert.
Wie betäubt folge ich Emma und Markus zum Auto.
Dana ist da. Und Nadine. Ich weiß nicht genau, in welchem Teil des Krankenhauses wir uns befinden. Ich kann nicht klar denken. Niemand spricht mit mir, aber ich bin auch außerstande nachzufragen. Weil ich Angst vor der Antwort habe.
Mein Leben scheint um zwei Jahre zurückgespult. Diese unglaubliche Wut auf Sebastian und dann die Nachricht von seinem Unfall. Doch jetzt ist es Gabriel. Mein Gabriel.
Dana beobachtet mich von der anderen Seite des Raumes und erbarmt sich schließlich, zu mir zu kommen.
„Was ist mit ihm?“, frage ich mit dünner Stimme. „Wo ist er?“ Ist er tot? Aber dann würde sie doch sicher weinen.
„Er wird gerade operiert. Bei dem Unfall hat ihm ein herumfliegendes Kunststoffteil durch die Hose geschnitten und seine Beinschlagader verletzt. Mehr weiß ich im Augenblick auch nicht.“
Sie weint nicht, aber ihre Hände zittern stark, auch wenn sie versucht, es zu verbergen.
„Nicht schon wieder“, murmele ich vor mich hin.
„Liebst du meinen Sohn, Lena?“
Nur daran zu denken, dass ich ihn vielleicht nie wieder sehe, zerreißt mich innerlich.
„Wahrscheinlich“, antworte ich mit einem verbitterten Lachen. „Sonst wäre mir das hier egal.“ So egal wie Sebastians Tod.
Es ist nicht meine Absicht, ihr gegenüber schnippisch zu sein, aber ich kann mir einfach nicht helfen. Ich habe versucht, mich emotional nicht wieder angreifbar zu machen, und trotzdem ist es passiert.
„Komm mit“, fordert sie und zieht mich vom Stuhl hoch. Wahrscheinlich will sie mich rausschmeißen, weil ich nicht gut genug für ihren Sohn bin und ich kann sie sogar verstehen.
Anstandslos lasse ich mich nach draußen schieben, wo Dana mich auf eine der vielen Parkbänke unter dem Vordach des Krankenhauses platziert. Sie atmet erst ein paar Mal tief durch, bevor sie sich neben mich setzt.
„Du weißt, was mit meinem Mann passiert ist“, stellt sie fest.
„Gabriel hat es mir erzählt.“ Fast verschlucke ich mich an seinem Namen und verstehe Sekunden später, dass es ein unterdrückter Schluchzer war.
„Ich versuche, nicht wütend zu sein, Lena. Wirklich, ich mag dich. Und ich sehe, dass du gut bist für meinen Sohn. Aber ich sehe auch, welches Potenzial du hast, ihm das Herz zu brechen.“
„Das ist nicht meine Absicht.“
„Dann, verdammt noch mal, komm wieder auf die Füße. Ich sage es dir noch mal und ich bin eine der wenigen Personen, die das Recht hat, so mit dir zu sprechen: Du weißt, wie mein Mann war und was ich über Jahre ertragen habe. Du weißt, was Gabriel für mich getan hat. Mit dieser Schuld lebe ich jeden Tag. Aber ich weigere mich, mich davon auffressen zu lassen. Ich habe ein fantastisches Kind großgezogen, ich habe einen Beruf, der mich glücklich macht und ich habe ein Dach über dem Kopf. All diese Dinge machen mich glücklich. Die Vergangenheit hat keine Macht mehr über meine Gegenwart. Ich weiß, dass deine Geschichte anders ist. Sei nicht sauer auf ihn, aber Gabriel hat es mir erzählt. Nach all der Zeit musst du deiner Vergangenheit die Macht entziehen, sonst gehst du mit ihr unter. Du weißt, dass du deinen Mann nicht getötet hast, unabhängig von den Gefühlen, die du ihm gegenüber zu der Zeit gehegt hast. Du weißt, dass es nicht deine Schuld ist. Tief in dir drin weißt du es.“
Mein Verstand stimmt ihr zu, doch mein Herz kommt da nur schwer hinterher.
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