Durch den Wind
angerufen, und ihr Telefon hatte die Nachricht nicht aufgezeichnet. Sie rief ihre Mailbox an und steckte das Telefon wieder ein. Vielleicht hätte sie doch gestern schon Nachforschungen anstellen sollen.
Sie versuchte die Finger zu spreizen. Alle Finger noch da, jeder einzelne, sogar die Daumen. Sie versuchte den Gedanken zu denken, dass es eine Erklärung gab und er heute Abend oder morgen doch noch kam. Sie hörte sich bei diesem Gedanken zu, und er machte fast ein Geräusch, so sperrig war er. Dann war sie endlich an der Reihe.
»Leider dürfen wir keine Informationen rausgeben«, sagte die Dame vom Informationsschalter und tippte gleichzeitig auf ihrer Tastatur, »aber machen Sie sich keine Sorgen, Ihr Mann meldet sich schon.«
Alison schüttelte den Kopf, trat zur Seite und blieb eine Weile regungslos stehen. Dann rief sie die Privatnummer von Victors Sekretärin an.
»Er hat sich seinen Flug diesmal selbst gebucht. Wir wissen auch nicht, wann er zurückkommt, aber das macht er doch manchmal so«, sagte die Sekretärin.
Ja, das machte er manchmal, wenn es ihm im Büro zu viel wurde. Im Büro.
Jetzt blieb nur noch eine Möglichkeit: sein Hotel in Tokio.
Es knackte in der Leitung, Musik erklang, dann eine japanische Stimme. Sie nannte Victors Namen, wieder erklang Musik, dann erneut die Stimme: »Der Herr ist abgereist, er hat keine Nachricht hinterlassen.«
Sie ließ den Hörer sinken, tastete nach der Heizung hinter sich, setzte sich. Und stand wieder auf.
Jetzt lief sie an dem kleinen Flughafencafé vorbei. Der Windhund saß mit spitzen Pfoten auf dem Boden, als wären ihm die Kacheln zu kalt; seine Besitzerin trank ein Glas Tee. Was sollte sie jetzt tun? Sollte sie einfach nach Hause fahren? Und schon jetzt stand ein Wie-nur-weiter vor ihr, zentralmassiv, keine Steigeisen weit und breit. Wenn er nicht mehr wiederkommen würde, nie wieder ..., es geht nicht, dachte sie, und der Gedanke war leise und unsichtbar wie die Nacht.
Freitagabend hatten sie doch noch telefoniert, und seine Stimme hatte geklungen wie immer; wenn er nur zitternd oder zögernd geklungen hätte, kühl oder überschwenglich, aber nichts – keinerlei Hinweise.
Irgendetwas in ihr hatte auf so einen Moment gewartet – ihr ganzes Leben schon. Sie setzte sich auf eine Treppe, die ins Untergeschoss führte. Aber vielleicht war das jetzt gar nicht so ein Moment, vielleicht war er gar nicht verschwunden? Hatte sie doch etwas falsch verstanden? Manchmal hörte sie nicht so gut zu, wenn es um Informationen ging.
Doch langsam machte sich ein Gefühl in ihr breit, das allen Beschwichtigungen trotzte. Sie stand wieder auf. In kleinen Streitereien hatte Victor früher öfter gesagt, dass er sowieso irgendwann wieder aus ihrem Leben verschwinden werde; manchmal hatte er es im Scherz gesagt und manchmal mit einem Ausdruck, der ihr durch Mark und Bein gegangen war. Und es hatte nie wie eine Drohung geklungen.
Sie drückte den kleinen und den Ringfinger sowie den Mittel- und den Zeigefinger gegeneinander und schaute auf die Gabelung in der Mitte der beiden Fingerpaare. Zwei Finger links, zwei Finger rechts, die ein ›V‹ zeichneten und dazwischen nichts – so einfach ging das. Ohne viel Aufhebens konnten die Wege einfach auseinandergehen. Sie starrte eine Weile weiter auf ihre Finger, dann ballte sie die Fäuste. Vielleicht waren es nur Fingerspiele und kein Wink mit dem Zaunpfahl, kein Fingerzeig. Vielleicht löste sich alles in Luft auf, und der Rezeptionist in Japan hatte sich vertan. Sie wählte die Nummer noch einmal. Dieselbe Stimme, dieselben Worte: Abgereist, keine Nachricht.
In das Telefonat hinein verkündete eine Lautsprecherstimme den Abflug der Air-France-Maschine nach Paris. Alison drückte Ring- und Mittelfinger gegeneinander und spreizte den kleinen und den Zeigefinger ab. So hatten sie gestanden, Victor und sie, die letzten Jahre, eng aneinandergelehnt, in der Mitte ihres Lebens. Wenn er jetzt tatsächlich aus ihrem Leben verschwunden wäre, dann müsste sie erwachsen werden – mit einem Schlag, dachte sie und hätte den Gedanken fast nicht zu fassen bekommen, so schnell floh er durch sie hindurch. Wenn er jetzt verschwunden wäre, dann wäre ihr Zwischenraum verwaist, und der riesige leere Raum, der sie umgab, würde sich irgendwann in ein schwarzes Loch verwandeln.
Sie stand wieder vor dem Ausgang, aus dem Victor nicht gekommen war. Ein neuer Sicherheitsmann (dem alten fast aufs Haar gleich) nahm seinen Platz
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