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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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das Moos und stand in der Küche. Der Weg in die Küche war leicht, weil das Photo neben ihr herlief.
     
    Eduard und Felix schauten sie fragend an, einen Teller Spaghetti vor der Nase, die Ketchupflasche auf dem Tisch. Dann begann Felix zu strahlen und laut »Mami!« zu rufen. Sie winkte ihnen zu (was für eine unpassende Geste!) und versuchte ihnen in die Augen zu schauen. Jetzt schämte sie sich.Dafür, dass sie nicht einfach einen Mittagsschlaf gemacht hatte wie andere Mütter. Doch Felix lief auf sie zu, sprang auf ihren Arm, und schon war alles vergessen.
    »Schmeckt’s dir?« fragte sie fröhlich, angesteckt von Felix’Strahlen. Doch dann fiel ihr Blick auf Eduards glattpolierte Schuhe: kein Körnchen, keine Düne, kein Entrinnen. Und Eduard schnitt Felix’ Spaghetti. Sie zog ihren Mantel nicht aus, schenkte Apfelsaft nach und strich Felix durch die Haare: »Du schwitzt ja, habt ihr getobt?«
    Wie warm er war und wie weich. Eduard schnitt weiter Spaghetti. Wie konnte man Spaghetti nur schneiden? Schon als Kind ging es ums Drehen, nicht ums Schneiden. Als sie die Apfelsaftflasche wieder zumachte, sagte Eduard: »Heute Abend läuft Lawrence of Arabia . Sollen wir uns den anschauen? Ich hätte mal wieder Lust auf diese grandiosen Wüstenbilder.«
    Ihr stockte der Atem. Die Rettungsjeeps hatten alles beobachtet, sie würden sie so oder so verraten. Sie streichelte Felix über die Wangen und nickte. »Ich muss kurz telefonieren.« Dann ging sie ins Schlafzimmer, wählte die Nummer ihrer Großeltern, ließ es dreimal klingeln und legte den Hörer wieder auf. Sie setzte sich aufs Bett und starrte an die Decke, das Brennen in ihren Augen war verschwunden, jetzt glitten ihre Lider ganz glatt über die Augäpfel. Sie saß eine Weile so da, dann wählte sie erneut die Nummer. Ihr Großvater nahm ab, ohne Zittern in der Stimme, ganz bestimmt sagte er den Namen, der auch der Name ihrer Großmutter war. »Ist Großmutter wieder da?« fragte sie, und ihr Großvater antwortete: »Nein.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Noch nicht.« »Danke«, sagte er dann noch.
    »Wofür«, fragte sie und verabschiedete sich.
    Nachdem sie aufgelegt hatte, konnte sie aufstehen, ein ganzes Glas Wasser trinken, ins Wohnzimmer gehen und den Rest des Tages mit Felix spielen, so als wäre ihre Welt keine Wüste.

2    Wer auch immer sie ist

 
    Alison stand am Flughafen und beobachtete die Menschen, die aus dem Ausgang kamen, aus dem Victor auch gleich kommen würde: japanische Reisegruppen und Übernächtigte in dunklen Anzügen, ein paar junge Männer mit fransigen Haaren und Kopfhörern, nicht eine einzige alleinreisende Frau. Gestern war sie schon einmal hier gewesen, zur gleichen Zeit. Sie hatte wahrscheinlich die Tage durcheinandergebracht, Samstag und Sonntag verwechselt. Sie hatte sich gemerkt, dass er eine Woche wegbleiben wollte, und vor einer Woche gleich nach dem Fest war er abgefahren. Samstag? Sonntag? So etwas passierte ihr manchmal, ihr Zeitgefühl machte sich zuweilen unabhängig von den Uhren, den Tagen, der Messbarkeit, aber jetzt war sie ja hier, und gleich würde er kommen. Noch ein paar Männer in Anzügen, dann keiner mehr. Wie gestern. Genau wie gestern.
    Der Sicherheitsmann, der an dem Ausgang saß, aus dem Victor nicht gekommen war, sah sie fragend an. Das Gepäckband kam zum Stehen, die Anzeigetafel erlosch. Sie hörte, wie es klackerte und eine neue Landung angekündigt wurde. Sie blieb einen Moment regungslos stehen, dann wählte sie seine Nummer. Ein paar Ruftöne, dann seine Stimme auf der Mailbox. Sie setzte sich auf die Heizung am Rand der Abholhalle. Wie gestern. Einen ganzen Tag lang hatte sie den Atem angehalten, aber ... sie hatte sich gar nicht getäuscht. Sie erinnerte sich jetzt ganz deutlich an seine Worte, er käme samstags zurück und sonntags könnten sie zusammen frühstücken gehen. In ihrer Magengrube braute es sich zusammen. War ihm etwas passiert?
    Eine junge Frau mit einem Windhund an der Leine ging an ihr vorbei, abgemagert bis auf die Knochen. Wenn er den Flug verpasst hätte, hätte er angerufen. Sie sah, wie der Sicherheitsmann seine Sachen packte und ging. Ihre Beine wurden langsam taub. Vielleicht war in Paris bei der Zwischenlandung etwas schiefgelaufen. Sie suchte einen Informationsschalter. Ihre Schritte waren viel zu langsam, ihre Beine bewegten sich, wie sie es aus Träumen kannte, das Tempo passte nicht zur Situation. Sie stellte sich in die Schlange. Vielleicht hatte er

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