Durch den Wind
hat er den Flug verpasst«, sagte Yoko wieder, aber ihre Stimme schaffte keine gerade Linie.
»Dann hätte er angerufen, wenn er den Flug verpasst hätte, dann hätte er angerufen. Nein, nein, es ist was gerissen. Mein Herz ist gerissen. Ich spüre überhaupt nichts, aber den tauben Riss, den spüre ich.«
»Trink«, sagte Yoko. Dann führte Yoko Alisons Hand mit der Schale an ihre Lippen und setzte sie erst wieder ab, als die ganze Schale leer war.
Sie merkte, wie sie trank, und versuchte sich zurückzulehnen, aber es ging nicht, es drückte sie nach oben. Sie stand wieder auf. Sie konnte jetzt nicht sitzen. Dass sie noch etwas zu Yokosagte, bemerkte sie nur noch an ihren Lippenbewegungen, dann lief sie die Treppen herunter, an ihrem Auto vorbei und weiter. Laufen, laufen, laufen. Ein ganz normaler Sonntag. Sie hatte immer gewusst, dass etwas in dem Bild nicht stimmte. Zu schön vielleicht. Noch eine Ecke. Laufen, laufen. Sie durfte nicht an einem Ort bleiben. So hatten sie doch immer miteinander funktioniert, ihre Körper hatten diese Art der Verbindung. Sie musste in Bewegung bleiben, unbedingt, denn nur so konnte auch er in Bewegung bleiben und vielleicht doch noch ... Sein Körper musste doch merken, was hier gerade passierte. Um was auch immer es ging. Sie bog erneut um eine Ecke. Die Beschwichtigungen flohen durch sie hindurch, und irgendwann griffen sie gar nicht mehr, irgendwann war das Gefühl in ihr gereift, dass Victor abgetaucht war. In der Mitte ihres Lebens war Victor abgetaucht.
Schon wieder sonntagmorgens. Um den Sonntagmorgen kam man einfach nicht herum, jedenfalls nicht so, wie es einer alleinlebenden Frau wie Friederike am angemessensten gewesen wäre: schlafend. Aber genau das konnte sie sonntagmorgens nicht. Das Fest war eine Woche her. Eine Woche, in der sie so viel gearbeitet hatte, dass sie weder im Kino noch auswärts essen oder eingeladen war. Eine gute Woche im Laden, sie hatte die weißen Sachen zum Großteil verkauft, aber kein Kuss von Tom, kein Telefonat, nichts. Die kleine Blumenvase, die neben ihr auf dem Nachttisch stand, war leer. Nicht einmal das hatte sie geschafft, obwohl sie wenigstens Blumen in ihrem Schlafzimmer brauchte, wenn sie schon alleine aufwachen musste. Wenn bei ihr zu Hause nichts wuchs, wurde sie unglücklich. Pflanzen, Tiere, Kinder – das war eine aufsteigende Linie, auf der sie noch nicht wirklich weit gekommen war. Immerhin blühte alles, was sie in die Hand nahm, sogar das empfindliche Basilikum, das bei Siri und Alison sofort einging, kaum hatten sie es gekauft. Doch das half alles nichts: es war Sonntag.
Dass der Sonntag schon wieder so etwas Bleiernes hatte, lag nicht nur daran, dass der erste ganze Tag mit Tom ein Sonntag gewesen war und die Erinnerung sonntags am stärksten hochkam. Es lag auch daran, dass sie katholisch war und der Sonntag sie immer noch in eine lähmende Feierlichkeit versetzte. Sonntags wachte sie immer so auf, dass sie gerade noch duschen konnte vor dem Gottesdienst. Dabei wollte sie gar nicht in den Gottesdienst, weil dort nur Familien saßen oderdiese einzelnen Gestalten, mit denen sie nicht in einen Topf geschmissen werden wollte. Wenn sie keine Frühstücksverabredung mit einer Freundin, ihrem Mann und ihren Kindern hatte, dann musste sie den Sonntag bis nachmittags alleine verbringen und konnte erst dann am Telefon irgendeinen Museumsbesuch vorschlagen, auf den sie eigentlich gar keine Lust hatte. Wie sehr sie diese Sonntage satthatte und wie sehr sie es Tom übelnahm, dass sie jetzt wieder so waren. Aber so war das eben in ihrem Alter, wenn man allein in Berlin lebte.
Neun Uhr. Sie versuchte die Augen wieder zu schließen. Was war eigentlich passiert mit ihrer Beziehung zu Tom? Warum lag er jetzt nicht neben ihr? Was war nur passiert?
Drei Tage hatten sie nach ihrem ersten Treffen miteinander verbracht, drei Tage, in denen sie sich nicht um ihren Laden gekümmert und er seine Musik seingelassen hatte. Drei Tage, in denen sie so miteinander gesprochen hatten, wie sie noch nie mit einem Mann gesprochen hatte, in denen es Küsse gegeben hatte, von denen sie immer geträumt, und Blicke, die sie sich immer ersehnt hatte. Drei Tage hatte es gedauert mit Tom. Drei Tage, die ein ganzes Leben in sich trugen, aber eben nur drei.
Dann musste es passiert sein. Was passiert war, wusste sie nicht. Es musste etwas gewesen sein, das sie nicht bemerkt hatte, das sie nie verstehen würde, das sich wie ein Filmriss
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