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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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anfühlte, den es nie gegeben hatte. Irgendetwas war jedenfalls passiert, denn Tom begann sich in einem eigenartigen Krebsgang von ihr zu entfernen – zwei Schritte zurück, einen vor und immer seitwärts. Nach den ersten drei Tagen meldete er sich erst einmal einen ganzen Tag gar nicht, und dann meldete er sich und verschob das nächste Treffen und kam auchdann nicht, sondern später, viel später, als es schon zu spät war, um die Enttäuschung zu unterdrücken. Und so färbte sich das Himmelblau, und ihr Blick bewölkte sich, und sein Blick spiegelte ihre Wolken. Am nächsten Tag regnete es, und der Schnee blieb aus, und mit dem ausbleibenden Schnee blieb noch etwas anderes aus, was sie nicht verstand und nie verstehen würde, weil sich für sie nichts verändert hatte.
    Die nächste Nacht war schon die letzte, die bis in den Himmel reichte; dann kamen sie schon – die Tage, an denen sie sich immer wieder missverstanden, an denen sie Kleinigkeiten befremdeten, und schon nach einer Woche fiel er abends nach einem wirklich wunderschönen Kinoerlebnis so müde ins Bett, dass sie nicht miteinander schliefen, und auch am Tag danach nicht morgens gleich nach dem Aufwachen, sondern erst nachmittags, als er von seiner Probe kam, und auch da eher so, als hätte er etwas vergessen. Doch zwischendurch blitzten sie durch – die ersten drei Tage, und dann war alles wieder möglich, jeder Wunsch, jeder Traum, jedes Leben. Kinder.
    Ihr hattet einfach zu viel Zeit, hatte Yoko gesagt, du hättest dich lieber mal um deinen Laden kümmern sollen, so wie sonst auch. Schließlich bist du eine Geschäftsfrau und kein Teenager mehr, hatte Yoko gesagt, und dass kein Mensch so viel Nähe ertragen könne.
    Und vielleicht war das wirklich das Problem gewesen. So oder so – jetzt war wieder Sonntag, und die Sonntage fühlten sich schon lange wieder so an wie vor den drei Tagen mit Tom, genauso bleiern und allein – und doch ganz anders. Sie setzte sich auf und raufte sich die Haare.
     
    Wach, wach, wach.
     
    Sie gab sich einen Ruck und stand auf. Langsam, mit gesenktem Haupt und strähnigen Locken, ging sie ins Bad. Wie ein Wasserbüffel, dem eine Last ans Geschirr gebunden war. Sie drehte sich nicht um, sie wusste es: Der Boden hinter ihr war unversehrt, keine Furche und auch keine Samen, um irgendetwas zu säen.
    Das kalte Wasser half, das dumpfe Gefühl in ihr ein wenig verfliegen zu lassen. Vielleicht würde sie doch frühstücken gehen. Ins Einstein unter den Linden . Dort gab es Zeitungen, verzierten Milchschaum und oft eine Berühmtheit zu entdecken, was ihr schon den ersten Gesprächsstoff für das Drei-Uhr-Telefonat liefern würde. Sie würde noch ein bisschen warten, bis sie aufbrach, dann hätte sie Zeit vor dem Ausflug und Zeit danach. Es war demütigend, sich die Zeit einzuteilen, als ob man bereits im Altersheim lebte, aber es war eben so.
     
    Auf dem Küchentisch lag noch das unberührte Marmeladenbrot von gestern Abend. Auf dem Fensterbrett sprossen neue Blüten in kleinen und großen Tontöpfen. Sie wuchsen zu langsam, um ihnen dabei zuzusehen. Wenn sie aus dem Einstein zurückkam, würde sie sich ihnen widmen, die trockenen Blättchen abzupfen und sie mit frischem Wasser besprühen. Ihre Pflanzen suchten nichts als das Licht. Und jetzt gerade beneidete sie die Pflanzen für ihren schlafend-träumenden Zustand. Wer niemals das pflanzliche Leben beneidet hat, ist am Drama des menschlichen Lebens vorbeigegangen. Ciorans Satz war heute wahrer, als ihr lieb war. Sie wollte ihre Pflanzen nicht beneiden, sie wollte lachen, an die frische Luft gehen, mit Tom durchs Scheunenviertel laufen. Irgendwann würde sie auf dem Land leben mit einem großen Garten, in dem sie Gemüse anpflanzte, und einem Haus voller Kinder.
    Warum sie immer noch kein Kind hatte, obwohl sie schonmit Anfang zwanzig eins haben wollte; obwohl sie, anders als ihre Freundinnen, nie Angst vor dieser Entscheidung gehabt hatte? Wenn sie in den ersten Nächten mit Tom schwanger geworden wäre, dann wäre es gut gewesen, aber damals hatte sie gedacht, sie hätten alle Zeit dieser Welt.
    Sie schaute aus dem Fenster. Wenn es jetzt nur schneien würde. Die Schneeflocken würden es ihr abnehmen, diesem Tag einen Charakter zu geben, sie würden ihr abnehmen, die ganze Luft um sie herum anfüllen zu müssen. Das Schweigen würde durch die Gegend gewirbelt und so seine Schwerkraft verlieren. Dann könnte sie vielleicht sogar Tom anrufen und mit ihm spazieren gehen.

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