Durch den Wind
prächtigen Wohnung mit einem Sohn und einem Mann, der sie wirklich liebte.
Ganz kurz wurde es ruhig. Dann sah sie Eduards Schuhe wieder. Friederike und Nietzsche hatten sich geirrt: Dass die Wüste wächst, traf nicht für alle zu. Ihre Wüste durfte gar nicht wachsen. Keinen Augenblick hätte sie hier wegschlafen können, die Jeeps wachten mit Wasser und Verpflegung und einem Erste-Hilfe-Koffer mit Heftpflastern und blutstillenden Binden. Wozu die Binden? Ihr Blut kam sowieso nicht aus ihrem Körper heraus. Sie verletzte sich fast nie, schon als Kind fiel sie nie hin. Keine Schnittwunden, keine Platzwunden. Ihr Körper blieb intakt, und ihr Blut zirkulierte ungestört vor sich hin, seit sie denken konnte. Sie war es leid. In ihrem Ohr hallte es wider, ihr Blut, das in viel zu engen Adern floss. Dieses ewige Pumpen. Wenn sie jetzt wenigstens schlafen könnte, dann könnte sie das Pumpen ihrem Körper überlassen und müsste ihm nicht dabei zuschauen, wie es sich abmühte. Dass Eduard blutstillende Binden dabeihatte, sagte doch alles. Er dachte an alles und verstand überhaupt nichts. Wenn sie wenigstens Sex miteinander hätten.
Sie richtete sich wieder auf und schaute auf die Uhr. Die beiden würden bald zurück sein. Sie würde jetzt frühstücken gehen in ein Café am Kollwitzplatz, wo sich sonntags immer ein paar Frauen trafen, von denen sie einige sogar mochte. Das würde sie vielleicht auf andere Gedanken bringen. Felix sollte sie schließlich nicht andauernd so niedergeschlagen erleben, das ging nicht, das durfte sie ihm nicht antun.
Als sie die Runde begrüßt hatte, wurde ihr schlagartig klar, dass sie eigentlich doch keine von ihnen mochte, aber dass ihr das in der jetzigen Situation vollkommen gleichgültig war. In dem Café bediente sie ein neuer Kellner, der ihr so lange in die Augen schaute, als hätte sie ihn darum gebeten. Sie trank ihren Espresso und einen Prosecco und bildete sich ein, dass diese Kombination die Gefäße weitete und das Blut verdünnte. Der Flirt des Kellners war so geübt, dass es nicht um sie gehen konnte. Vielleicht sollte sie es einmal mit so einem Mann versuchen? So einer würde sie sicher in Ruhe lassen. Und dann? Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Der Kellner verschwand mit der Bestellung, und sie schwang sich in den Ton der Runde ein. So erzählte sie mit ihrem beschleunigten Blutkreislauf von der Liebe zu ihrem Sohn und dass ihr Mann ihr einen Vormittag geschenkt hatte und schämte sich nicht. Und mit jedem Satz schämte sie sich weniger und vergaß ihren Blutkreislauf und die Rettungsjeeps in ihrem versandeten Wohnzimmer. Sie trank noch einmal das Gleiche, und als sie den letzten Schluck ausgetrunken hatte, merkte sie plötzlich, dass sie den Ton nicht mehr halten konnte. Mitten in einem Gespräch über den neuen Woody-Allen-Film musste sie gehen. Sie ging nach draußen, ohne Geld auf dem Tisch liegen gelassen zu haben. Sie drehte sich nicht mehr um und öffnete ihre Faust, in der das hässliche goldene Feuerzeug einer ihrer Bekannten lag. Sie hatte es nicht aus Versehen mitgenommen, sie hatte es geklaut.
Im Aufzug zu ihrer Wohnung lehnte sie sich an die Wand und verstaute das Feuerzeug tief unten in ihrer Handtasche. Der Aufzug ruckelte in die zweite Etage hoch. Als er zum Stehen kam, steckte sie sich ein Bonbon in den Mund, strich sich über die Haare, schaute einmal kurz in den dunkel getönten Spiegelund versuchte zu lächeln. Wieso musste sie eigentlich immer so aussehen, als sei der Himmel blau, als regnete es Rosen? Warum konnte sie nicht einmal so aussehen wie jemand, der seine Bekannten bestahl und seinen Mann verachtete? Sie raufte sich zusammen. Für Felix. Felix sollte wenigstens eine schöne Mutter haben, eine elegante, schöne Mutter, wenn sie schon so schwierig war.
Sie öffnete die beiden Flügeltüren des Jugendstil-Aufzugs. Schritte der Arztfamilie von oben waren zu hören. Schnell schloss sie die Wohnungstür auf, durch deren alte Milchglasscheiben schon die Beleuchtung des Flurs zu sehen war, und zog sie hinter sich zu, bevor irgendjemand ihr irgendetwas wünschen konnte. Es gab nichts zu wünschen, sie hatte alles, alles, alles.
Sie ging durch den langen Gang in Richtung Küche. An der einen Seite auf Kopfhöhe war eine Photoinstallation aufgehängt, die sich über die gesamte Länge des Flurs zog und Spaziergänger in einem dichten grünen Wald zeigte. Sie federte auf und ab und atmete tief durch, sie hörte die Vögel, roch
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