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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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einer Viertelstunde waren Eduard und Felix fertig angezogen. »Schlaf dich aus«, sagte Eduard noch, und Felix rief: »Schlafmütze, Mami ist eine Schlafmütze.«
    Dann waren sie aus der Tür.
     
    Die Kühle des Parketts drang nun durch den Mantel zu ihr hindurch. Tageslicht drang durch die weißen Vorhänge ins Zimmer. Sie sah ihre Wohnung wie jemand, der ihren Preis schätzte. Das Wohnzimmer war eines von zwei großen, quadratischen Altbauzimmern, die eine Flügeltür miteinander verband. An der Frontseite waren schöne Doppelfenster, und ein Zimmerhatte einen Erker. Im Wohnzimmer standen zwei große, hellgraue Sofas, ein klar geschnittener Sofatisch aus dunklem Holz und eine Stehlampe aus rotem, opakem Glas – sonst nichts, im anderen Zimmer befand sich ein zweieinhalb Meter langer Tisch aus Nussbaumholz mit acht roten Freischwinger-Stühlen. An den Wänden des Esszimmers hingen Photographien des finnischen Künstlers, den sie vor ein paar Jahren in der Galerie, in der sie gearbeitet hatte, vertreten hatte. Bei der Vernissage hatte ein junger Mann mit zerzausten Haaren dagestanden, der mit seinen Bildern nur den Namen gemein zu haben schien, der trank und trank, ohne betrunken zu werden, und sie am Ende des Abends nach ihrer Nummer fragte, ohne irgendwelche Emotionen zu zeigen, so dass sie nicht wusste, ob er ihre Nummer wollte, um überhaupt etwas gesagt zu haben, oder um mit ihr auszugehen. Angerufen hatte er nie. Dafür hatte sie seine Photos gekauft.
    Die Photos zeigten einen jungen Mann, der mit unterschiedlichen Hilfsmitteln und von verschiedenen Positionen aus Flugversuche unternahm. Auf einem Photo stand er mit winddurchlässigen Flügeln auf einem Felsblock in einer kargen Landschaft, und sein gesenkter Blick nahm das Scheitern seines Flugversuchs schon vorweg; auf einem anderen saß er auf einem zu einem Fluggefährt umgebauten Fahrrad in einem menschenleeren See, seine Beine und die Räder im Wasser.
    Sie schloss die Augen. Der Künstler war wieder in Helsinki, und sie hier in Berlin. Sie war so müde. Seit Felix auf der Welt war, hatte sie Schlafprobleme, zuerst, weil er so oft aufwachte, und jetzt? Ins Bett wollte sie nicht, durch eine weiche Matratze wäre sie einfach hindurchgesunken – ins Nirgendwo. Also der Fußboden.
    Sie drehte sich seitlich aufs Parkett, steckte ihre Fäuste in die Manteltasche und schaute in das Wohnzimmer hinein. Inder Ecke vor der alten Kommode stand ein Paar von Eduards Schuhen, und unter dem Sofa lag eine ganze Ansammlung von verstaubtem Spielzeug: ein Förmchen, eine Schaufel, ein kleiner blauer Plastikrechen. Sie musste lächeln. Felix würde sich freuen, wenn sie ihm den Rechen nachher präsentieren würde, er hatte ihn schon vermisst. Er hatte einen ganz speziellen Bezug zu seinen alten Sachen, mochte die neuen lange nicht, sondern die am liebsten, die angeknabbert, abgerieben, verschlissen waren. Sie strich mit der Hand über das Parkett. Überall lagen kleine Steinchen, der ganze Boden war von einer dünnen Sandschicht überzogen. Felix brachte den Spielplatz jeden Tag mit nach Hause.
     
    Sand, sagte sie leise, Sand – so wie man den Namen eines Liebhabers flüsterte. Sand, überall Sand. Jetzt am Strand! Mit Felix am Strand, mit Sandburgen und Eisessen. Sie hob ihren Kopf. Hier war kein Strand, hier war Wüste. Sie schaute auf Eduards Schuhe, die wie kleine schwarzlackierte Jeeps in der Ecke parkten. Natürlich keine Kamele, dafür war er zu pragmatisch und zu wenig abenteuerlustig, natürlich Jeeps mit Ledersohlen, die durch die Wüste glitten und die Steine unter den Sohlen nicht spürten. Sie drückte ihr Ohr gegen das Holz und schloss die Augen. In der Wüste einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen, das wäre vielleicht eine Lösung.
    Doch ihre Augen brannten. Die Wüste wächst. Weh dem, der Wüste in sich trägt. Aber Nietzsche war doch nie in der Wüste gewesen, viel eher in den Bergen, in den Schweizer Bergen, oder täuschte sie sich da? Verband sie ihn nur mit den Schweizer Bergen, weil sein Bart so aussah, als käme er von dort? So oder so: Friederike sollte sie lieber in Frieden lassen mit solchen Sätzen, sie bekam sie nicht wieder aus dem Kopf, Friederike sollte aufhören, den ganzen Tag in irgendwelchenBüchern nach dem Sinn für ihr Dasein zu suchen, und lieber mit Tom sprechen oder ihn endlich vergessen. Dass Friederike immer noch an dieser Sache hing? Diese Art Obsession hatte sie zum Glück hinter sich und war jetzt hier gelandet, in einer

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