Durch den Wind
reagieren zu können. Sie wollte sich so tief dort hineinrammen, bis nur noch ihr Haarzopf oben herausschaute, den hätte ihre Mutter dann abschneiden und als Erinnerung in eine Lackschale legen können. Und ihr Vater hätte weiterleben können, als hätte er keine Tochter gehabt, die sich mit Ausländern traf und auf der Straße als Hure beschimpft wurde. Ihr Vater dachte wahrscheinlich, sie wüsste nicht, was sie tat, aber das war nicht der Fall. Sie wusste es genau. Sie fühlte sich auch ein bisschen wie eine Hure, aber wie eine Hure in einem westlichen Film, und es fühlte sichgut an. Selbst jetzt konnte sie dieses Gefühl nicht leugnen, es fühlte sich gut an, sich wie eine Hure in einem westlichen Film zu fühlen. Das Problem war nur, dass sie eine Doppelrolle spielte. Sie fühlte sich nämlich auch wie eine Tochter in einem altmodischen japanischen Film, die ihren Vater auf eine Weise verehrte, wie es nicht mehr zeitgemäß war.
Sie hielt den Holzspatel immer noch in der Hand, obwohl er ihr nicht helfen würde, er war viel zu stumpf und aus Holz; außerdem hätte sie sowieso nie den Mut gehabt, ihrem Vater zu folgen. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. Und der Reis, fragte ihre Mutter leise. Der Reis wartet auf mich, dachte sie und schwieg.
Ihr Bruder und ihre Schwägerin kamen ins Zimmer. Sie hatten eine Begabung dafür, immer im falschen Moment am falschen Ort zu sein und es nicht zu bemerken. Der Reis fehlt, sagte ihr Bruder laut, und seine Frau stand auf, ging zum Reiskocher, drehte sich wieder um, nahm ihr den Spatel aus der Hand und teilte den Reis in fünf gleiche Portionen. Sie blieb sitzen und schaute auf das Loch in ihrer Faust, aus der ihre kurzbeinige Schwägerin den Spatel gezogen hatte. Vater begann zu essen. Wenn jetzt überhaupt noch etwas im Reiskocher geblieben wäre, dann würde dieser klägliche Rest kaum mehr den Boden bedecken, außerdem würde er schnell auskühlen. Ihre Schwägerin stellte ihr eine dampfende Schale vor die Nase. Sie schaute hinein und wünschte sich nichts mehr als eine filmreif blutende Nase. Der Tag würde so oder so weitergehen. Ihre Schwägerin begann Vater irgendetwas von einem neuen Kaufhaus in der Stadt zu erzählen. Und Vater aß weiter mit Blick nach unten und nickte ab und zu. Wenn sie jetzt Nasenbluten bekommen hätte, dann hätte sie die Botschaft von Yukio Mishimas Namen vielleicht vorweggenommen.
Ihr Vater ließ sich weiter von ihrer Schwägerin unterhalten, obwohl sie zu jener Generation Japanerinnen gehörte, die dachte, die japanische Idee sei der Wirtschaftsboom oder etwas Ähnliches gewesen. Und trotzdem hätte es eine Tochter wie ihre Schwägerin ihrem Vater leichter gemacht als eine Mishima lesende Hure. Auch wenn er seine Schwiegertochter im tiefsten Herzen verachtete und seine Tochter trotz allem vergötterte. Warum sonst hätte er ihr zugetraut, ihm in den Tod zu folgen?
An dem Tag, an dem ihr Vater ins Krankenhaus eingeliefert wurde, weil die Schmerzen in der Bauchgegend nicht aufhören wollten, schlug sie zweimal so fest mit der Nase gegen die Kacheln im Bad, dass sie zu bluten begann. Das Blut lief die Kacheln hinunter und vor ihr auf den Boden. Sie stillte es nicht. Eine Weile stand sie da, dann zeichnete sie mit dem Blut am Zeigefinger ein Schriftzeichen auf die Kacheln. Ganz in Weiß fuhr sie ins Krankenhaus. Der Arzt kam ihr schon auf dem Gang entgegen. Er verbeugte sich mehrmals und versuchte ihrem Blick auszuweichen. Sie wisse schon, was mit Vater passiert sei, sagte sie, deswegen sei sie gekommen. Es stehe wirklich schlecht um ihn, es tue ihm leid für sie und die Familie, sagte der Arzt, dann entfernte er sich rückwärts mit all diesen Verbeugungen. Es stehe wirklich schlecht um ihn – was war das denn für eine Formulierung? Japan. Manchmal hasste sie es. Sie hielt kurz inne. Dann rief sie ihm hinterher, er könne doch noch etwas für sie tun, sie wolle die Röntgenbilder ihres Vaters sehen.
Und auch wenn die Ärzte es sich dem Arztbericht zufolge nicht erklären konnten, zeigten die Röntgenbilder genau das Bild, das sie vermutet hatte: Ihr Vater hatte mit jenem Abendessen begonnen, sich das Leben zu nehmen, auch wenn er esdem Krebs überlassen hatte, es auszuführen. Die Geschwüre waren genau an den Stellen gewuchert, an denen der junge Leutnant das Schwert gegen sich selbst gerichtet hatte – in der linken Bauchseite, quer durch den Leib, am Hals.
Und sie war ihm nicht in den Tod gefolgt wie die junge, schöne,
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