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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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ein seidener Faden. Es hing an nichts mehr. Sie stand auf, ging in die Küche und trank einen Schluck Wasser aus einem Glas. Ihr Blick fiel auf den Küchentisch, dort lag Moby-Dick . Das Wasser floss durch ihren durchsichtigenKörper und kam kühl irgendwo an, im Nirgendwo ihres Lebens. Im Bauch des weißen Wals. Was war das für ein Tod?
     
    Sie würde nach Japan fliegen.

 
    Alison stand so lange vor dem Ausgang des Aquariums, bis Siri außer Sichtweite war, dann fing ihr Herz wieder an zu pochen, noch lauter als vorher. Ihre Blicke suchten die umgebenden Gesichter ab. Ob sie Friederike anrufen sollte? Sie lief los – über den Wittenbergplatz und weiter. Laufen schien das Einzige, was ihrer Angst etwas entgegensetzen konnte. Das erste Mal in ihrem Leben war es nicht Reden oder Schlafen, sondern Laufen.
    Nach ein paar Minuten liefen ihre Beine wie von allein. Ihre Füße schienen den Boden nicht mehr zu berühren, auch wenn sie schnell vorwärtskam, ihre Strümpfe waren inzwischen zu den Knöcheln hinunter und fast über die Ferse gerutscht, aber das störte sie nicht. Eine Straße nach der anderen. Ecken, Kreuzungen, rote Ampeln, Motorengeräusche. Nur noch Straßen, Geschwindigkeit. Sie lief und lief. Ein ganz normaler Sonntag. Die Geschäfte waren geschlossen, die Cafés überfüllt, Männer trugen Sonntagszeitungen unter dem Arm. Irgendwann lief sie durch den Tiergarten. Jogger kamen ihr entgegen, musterten ihre Schuhe, liefen an ihr vorbei. Der von Hortensien gesäumte Weg, den Victor so mochte, tauchte vor ihr, neben ihr, hinter ihr auf.
     
    Sie hatte das Aquarium schon so weit hinter sich gelassen, als wäre sie nicht heute, nicht gerade eben erst dort gewesen; das Café, Eduard, der Anruf – all das verblasste schon, so als drehte sich die Gegenwart direkt in den Bereich der Erinnerung hinein, und so als mischten sich die Farben des Erlebten, bevor sieihren Abdruck hinterlassen konnten. Nur der Flughafen blieb in einer überbelichteten Gegenwart stehen. Der Sicherheitsmann saß sicherlich noch so da wie vorhin. Keine Bodenwellen mehr. Ihre Jeans war trocken und steif. Das heiße Wasser, das Yoko ihr eingeflößt hatte, war versickert.
    Wohin? Es gab keinen einzigen Ort, an dem sie sich jetzt sicher fühlen würde, nicht einmal Friederikes Laden. Sie wusste nicht, wohin mit sich. Kein Halt weit und breit, kein Hügel, kein Brunnen, in dem sie sich hätte verstecken können. Die Stimme dieser Frau war ihrer Stimme so ähnlich gewesen. Sie würde sich in der Dunkelheit nicht nach Hause trauen. Wenn sie ins Wohnzimmer käme und wäre schon da: das wäre das Ende.
    Ihre Knie knickten ein. Sie riss sich zusammen und lief noch ein bisschen schneller. Vielleicht war sie ihr sogar schon auf den Fersen. Das Brandenburger Tor tauchte vor ihr auf. Die Quadriga schaute gen Osten. Osten, Japan. Sie blickte sich kurz um. Unter den Linden war zu bevölkert, das konnte sie schon von hier aus sehen, sie wollte jetzt keine ihr bekannte Redakteurin treffen oder eine der Frauen, mit der sie Yoga machte. Also bog sie gleich hinter dem Adlon ein und lief so lange, bis sie auf die Leipziger Straße traf, diese Niemandsland-Straße, in der es mehr Wohnungen gab als im ganzen Scheunenviertel; auf dieser Straße lief bestimmt niemand, der sie befremdet ansah. Victor, wo bist du? Rechts das Nikolaiviertel. Hier war sie nur einmal gewesen mit einer Großtante aus Westfalen, auch hier gab es nichts zu befürchten. Den Alexanderplatz versuchte sie zu überqueren, wie man die Luft anhält. Ihre Schritte wurden schwer. Dass man überhaupt so weit zu Fuß durch diese Stadt kam, war erstaunlich. Vielleicht war auch alles ganz einfach zu erklären, vielleicht hatten sie einfach den gleichen Namenund ähnliche Stimmen, und vielleicht hatte sie sich das gerufene Victor sogar eingebildet. Inzwischen klang es so verzerrt in ihrer Erinnerung, dass auch dies möglich war. Vielleicht gab es für alles eine Erklärung.
     
    Es begann zu dämmern, als sie in Friedrichshain ankam. Es wurde immer kälter, bald würde sich die Erde weit genug gedreht haben, um der Sonne zu entkommen. In Japan war es bereits tiefste Nacht. Wenn sie noch irgendeine Chance auf Ruhe haben wollte, dann würde sie sich jetzt beeilen müssen. Was kam hinter Friedrichshain? Weißensee. Ein weißer See, das wäre ein schönes Ende, aber es dämmerte, und in der Nacht waren nicht nur die Katzen grau. Rechts tauchte das Schild eines Restaurants auf, in dem sie oft gewesen war,

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