Durch den Wind
Spiegelbild im Teich gesehen. Was du jetzt damit machst, ist deine Sache.«
»Verliebt habe ich mich jedenfalls nicht in mein Spiegelbild«, sagte Alison.
»Du entscheidest.«
»Das Gefühl hatte ich noch nie«, sagte sie nach einer Weile.
Siri legte ihren Kopf auf Alisons Schulter.
Sie schwiegen eine Weile
»Wusstest du das eigentlich? Meine ganze Kindheit hat mich meine Großmutter hierhergeschleppt und mir erzählt, Frösche machen glücklich«, sagte Siri und lachte ihr dorniges Lachen.
Dann musste Siri aufbrechen, weil Felix bei einem Freund auf sie wartete. Alison versicherte ihr, dass sie nicht mitkommen wolle, dass sie stabiler sei, als es den Anschein erwecke, und wunderte sich über ihre eigenen Worte.
Als sie sich verabschiedeten, fragte Siri noch einmal: »Bist du dir sicher, dass ihm nichts passiert ist? Soll ich ... ich meine, ich kann auch für dich zur Polizei gehen?«
»Zur Polizei?«
»Vielleicht ist ihm was passiert, vielleicht liegt er irgendwo im Krankenhaus, vielleicht ... Bitte, Alison.«
»Ja, du hast recht. Vielleicht gibt es doch irgendeine Erklärung. Ich werde eine Vermisstenanzeige aufgeben, sobald ich das ... kann.«
Siri umarmte sie noch einmal: »Ruf mich an, wenn du mich brauchst, ja?« Dann ging sie Richtung Tiefgarage.
Alison schaute ihr nach und mit ihr einige Passanten, Männer und Frauen, sogar ein paar Kinder schauten. Siri schien die Blicke nicht zu bemerken, sie ging an den Menschen vorbei, als wüsste sie nicht, wie schön sie war, als kennte sie ihren Gang nicht, ihre Haare und die Wirkung der violetten Handschuhe.
Yoko saß in ihrer Wohnung und überlegte, ob sie den englischen Architekten, den sie letzte Woche beim Mittagessen kennengelernt hatte, nicht doch irgendwie ausfindig machen sollte. Er hatte gut ausgesehen und sich für Japan interessiert, Mishima gelesen und Kurosawa-Filme gemocht; vielleicht würde er sich nicht einfach so aus dem Staub machen.
Der letzte Abend mit ihrem Vater fiel ihr ein, dieser letzte, fatale Abend:
Sie war gerade dabei, ihrer Mutter beim Abendessenmachen zu helfen, wollte gerade den Reis mit einem Holzspatel aus dem Reiskocher in fünf kleine Schalen füllen, als ihr Vater sie ansprach und sagte, er wisse, was sie treibe, und er könne es nicht akzeptieren. Er saß auf dem Boden, die Füße in der Vertiefung in der Mitte des Raumes, wo ein kleines Feuer brannte, und kein Anzeichen von Wut oder Aggression in seiner Körperhaltung. Er könne es einfach nicht akzeptieren, wiederholte er, auch wenn er sich alle Mühe gegeben habe. Ihre Mutter räusperte sich und fing an, mit schnellen Bewegungen die anderen Gerichte auf dem Tisch zu arrangieren. Yoko verharrte über der runden Fläche von frisch gekochtem Reis, die unter ihr lag. Lauter einzelne Reiskörnchen, nur durch etwas Flüssigkeit und die eigene Stärke zusammengehalten. Er sei keiner dieser patriotischen Yukio-Mishima-Japaner, die für die japanische Idee in den Tod gingen, sie wisse, dass ihm die großen deutschen Dichter und Denker manchmal sogar näher waren als die seiner Heimat, aber er könne es trotzdem nicht akzeptieren,sagte er zum dritten Mal, stand dann auf und ging zum Esstisch hinüber, an dem ihre Mutter gerade die schwarzen Stäbchen verteilte. Der Dampf befeuchtete nun ihr Gesicht. Dass ihr Vater diesen Namen genannt hatte, hatte sie schlagartig in eine Stimmung aus Intimität und Panik versetzt.
Ihr Vater hatte ihr vor einiger Zeit die Erzählung Patriotismus von Mishima geschenkt, in der sich ein junger Leutnant vor den Augen seiner Frau mit einem Schwert das Leben nahm, und jede Zeile dieses Textes war getränkt von der erhabenen Verbundenheit, die diese beiden Menschen in den Stunden vor ihrem gemeinsamen Tod miteinander erlebten; wie sie sich das letzte Mal ansahen, schmeckten, liebten und wie der nahende gemeinsame Tod ihre Liebe in einer Deutlichkeit, Schönheit und Intensität aufleuchten ließ wie nie zuvor. Warum hatte ihr Vater gerade diesen Namen in den Mund genommen? Dass er gesagt hatte, er sei keiner dieser Yukio-Mishima-Japaner, war nicht weniger bedrohlich. Es war eine Aufforderung und die Beschwörung ihrer Beziehung zueinander. Ihrer Mutter hatte er die Erzählung nicht geschenkt, auch früher nicht.
Sie starrte immer noch auf den Reis, und es war nicht die heiße Luft, was ihr das Atmen erschwerte. Sie wollte in der dampfenden weißen Fläche vor sich verschwinden. Dort wäre es heiß und eng genug, um nicht mehr
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