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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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früher, als sie sonntags mit Victor frühstücken gehen konnte, einfach so. Schönbrunn . Der schöne Brunnen. Sollte sie dorthin, sollte sie sich ins Schönbrunn in eine Ecke setzen und den Familien bei ihren Sonntagen zusehen? Sie wurde noch langsamer, lief vorbei, dann bog sie zweimal ab, lief einen Hügel hinab. War sie den auch hinaufgelaufen? Wieder der Alexanderplatz. Das alte Forum-Hotel, das jetzt Park Inn hieß. War das der in den Himmel gespiegelte Brunnen?
     
    Eine japanische Touristengruppe blockierte den Eingang. Aus der Drehtür strömte stickige Heizungsluft. Ganz oben, sagte sie zu dem Mann an der Rezeption. Sind Sie allein, fragte er. Sie hob ihren Blick nicht, sondern füllte irgendein Formular aus und ließ sich einen Schlüssel geben. Sie sperrte das Zimmer auf und setzte sich auf das Bett. Das Zimmer schaute gen Osten, dem Morgen entgegen. Victor hatte nun eine Peilung für den Anflug, ob er die brauchte oder nicht. Finden würde sie hier niemand.
     
    Als es wieder hell wurde, wachte sie auf dem Boden liegend auf, angezogen mit schmerzenden Gliedern, schmerzendem Kopf und einem stechenden Schmerz in der Magengegend. Die Vorhänge waren zur Seite gezogen. Die Sonne prangte als rote Kugel am weißen Himmel. Die Tür zur Minibar stand offen. Alle kleinen Spirituosenfläschchen waren leer, die Bierflaschen waren leer, die beiden Weinflaschen, der Sekt, sogar die Ginflasche war leer, obwohl sie Gin nicht ausstehen konnte und sich nicht vorstellen konnte, ihn auch nur angerührt zu haben. Der Fernseher lief, das Bett war unberührt bis auf eine Mulde an der einen Ecke, auf der sie gesessen hatte, bevor es losgegangen war, das Weinen, das Trinken. Um zehn Uhr klingelte das Telefon, und der Mann von der Rezeption fragte, ob sie noch bleiben wolle. Ja, antwortete sie, dann setzte sie sich aufs Bett und saß so lange einfach nur da, wie sie geweint hätte, wenn sie hätte weinen können.

 
    Schon auf dem Weg in den Kindergarten hatte Siri gemerkt, dass sie wieder krank wurde. Als Felix sich verabschiedete, hatte sie einen leichten Druck auf den Ohren. Auf dem Rückweg war sie an der Galerie vorbeigefahren, in der sie bis zu Felix’ Geburt gearbeitet hatte. Die Fenster waren mit braunem Packpapier verklebt, die Tür stand offen, Packer trugen Bilder heraus, und keiner hatte ihr etwas davon gesagt. Keiner hatte ihr davon erzählt, so als hätten sie sie schon vollkommen abgeschrieben, als glaubte sowieso niemand mehr, dass sie wieder auf die Beine kommen, noch mal einsatzfähig werden würde, je wieder für sich selbst sorgen könnte. Vielleicht war sie inzwischen schon das, was man einen Fall nannte. Am liebsten wäre sie in die Galerie gestürmt und hätte eine Szene gemacht, aber dafür fühlte sie sich zu schwach. Dieses ewige Kranksein.
    Und jetzt war der ganze Kopf zu, die Nebenhöhlen pochten, der Hals schmerzte, die Schläfen drückten. Allein schon die Bässe des Autoradios waren schwer zu ertragen. Zum Glück war sie wieder zu Hause. Vor ihr standen eine große Tasse Melissentee und zwei aufgerissene Aspirinpäckchen.
    Eduard würde nachher, wenn er aus der Kanzlei kam, die Augen verdrehen, aber ihr trotzdem Medikamente aus der Apotheke holen, die gar nicht wirken konnten. Und dann würde er wieder sagen, dass sie immer dann krank werde, wenn sie etwas vorhätten, und dann würde sie sich abwenden, und ihr würden die Tränen in die Augen steigen, weil es nicht stimmte, und selbst wenn es stimmte, sie nichts dafür konnte. Sie erfandihre Krankheiten schließlich nicht. Und dann würde sie an Eduards Stimme hören, dass er ihr nicht mehr glaubte, und das würde sie dann vollends verzweifeln lassen, weil er ihr auch noch in den Rücken fiel, wenn sie sich so elend fühlte, schon wieder so elend fühlte.
    Vor einiger Zeit hatte sie ein Telefonat mitgehört, das er mit seiner Mutter geführt hatte: Sie lügt nicht, hatte er gesagt, ihr Körper lügt. Und dieser Satz sollte verteidigend klingen. Seitdem stellte sie sich die Frage, ob das überhaupt ging. An dem Abend nach dem Telefonat hatte sie zu ihm gesagt: Wenn Körper lügen könnten, wozu dann die ganze Röntgenmedizin, wozu Allergietests und Fieberthermometer? Wozu die ganze Wahrheitsfindungsmaschinerie der Medizin? Wenn Körper lügen könnten, dann könnten sie auch Tumore erschwindeln, Fieber hoch- und runterdrehen und gegen Katzenhaare reagieren, wann immer es ihnen passte. Und wäre das dann eine Lüge? Er hatte nichts geantwortet,

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