Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
Vom Netzwerk:
großmütige Frau des Leutnants, sondern hatte sich ein Taxi gerufen und war zum Flughafen gefahren. Sie würde nach Deutschland fliegen, das Land, in dem ihr Vater nie gewesen war. Im Flugzeug saß sie neben einem Berliner mit schönen Händen, und so folgte sie ihm weiter nach Berlin, mit einer schwarzen Handtasche, den weißen Kleidern, die sie am Körper trug, und den Röntgenbildern ihres toten Vaters.
     
    All das war ihr wieder eingefallen. Sie würde den englischen Architekten jetzt nicht anrufen, sie würde jetzt etwas ganz anderes tun, sie würde zu Hause anrufen. Sie trug das weiße Männerhemd, von dem sie nicht wusste, wem es gehörte, und keine Unterhose. Sie würde nichts sagen, sie würde nur erst einmal hören, wie das klang – Japan, zu Hause.
     
    Und tatsächlich: Sie wählte die Nummer, und nach einer Weile meldete sich am anderen Ende der Leitung ihre Schwägerin mit dem Namen, der eigentlich ihrer war. Yoko hielt den Hörer ganz fest, antwortete nicht. Wie einfach es war, zu Hause anzurufen. Ihre Schwägerin fragte nach, hielt inne, sagte noch einmal ihren Namen. Im Hintergrunddie Stimme ihrer Mutter.
    Die Stimme ihrer Mutter. Vivienne Westwood hatte auch keine Unterhose getragen, als sie zur Queen geladen war, und sie klebte sich seit einiger Zeit kleine Hörner auf die Stirn, wenn sie sich der Öffentlichkeit präsentierte. Ihr Vater hätte das lustig gefunden – das mit den Hörnern.
     
    Die Stimme ihrer Mutter.
     
    Ihre Schwägerin wiederholte den Namen erneut, der eigentlich der ihre war. Sie hielt den Atem an. Die Stimme ihrer Schwägerin klang reifer und weicher, als sie sie in Erinnerung hatte. Sie besaß immer noch diesen entleerten und gehetzten Ton, aber in dem Schweigen, das zwischen den Worten lag, meinte Yoko etwas anderes zu hören, irgendeine Irritation. Sie konnte nicht verstehen, was ihre Mutter im Hintergrund sagte, aber ihre Stimme klang weder zerbrechlich noch gebrochen. So als wäre nichts passiert.
    Ihre Schwägerin rief noch einmal in den Hörer, diesmal fast ängstlich. Yoko umfasste mit der einen Hand ihre Schulter und hielt mit der anderen den Hörer. Und plötzlich hörte sie die Stimme ihrer Mutter etwas lauter:
    »Sag ihm, dass er nicht zu spät nach Hause kommen soll, es gibt frischen Thunfischbauch.«
    Sie atmete einmal tief ein, dann sagte sie auf Japanisch: »Er ist tot.«
    Ihre Schwägerin brach schlagartig in ein hysterisches Kreischen aus. Es krachte, der Hörer schien auf einen harten Gegenstand aufzuschlagen. Ihre Schwägerin schrie den Satz zweimal hintereinander: »Er ist tot, er ist tot.«
    »Was?« schrie ihre Mutter, »wer?« Die Stimme ihrer Mutter so nah, als stünde sie neben ihr. Direkt in die Muschel. »Wer?« schrie sie noch einmal, »wer ist tot?« Und: »Wer sind Sie?«
    »Ich.«
    Auch das Geschrei ihrer Schwägerin verstummte.
    Dann eine kalte Stimme: »Sie irren sich.«
    Kurze Pause.
    »Wer auch immer Sie sind, Sie irren sich. Er lebt, meine Tochter ist tot.«
    Dann knackte es und tutete.
    Yoko regte sich nicht.
    Er lebt, meine Tochter ist tot.
    Das Krankenhaus, der Arzt, die Röntgenbilder, die Geschwüre, der Flug nach Berlin, Mishima. Frischer Thunfischbauch. Mutter war verrückt geworden. Sie wartete immer noch, dass Vater zum Abendessen kam, sie war verrückt geworden.
     
    Ihre Fersen hoben vom Boden ab. Die weißen Holzbohlen unter sich. Sie verfolgte die Linie bis zur Wand, glitt die weiße Wand hinauf, das Mauerwerk löste sich auf, wälzte sich als weiße Lawine auf sie zu. Sie rang nicht nach Luft. Sie verlor den Boden unter den Füßen, breitete die Arme aus und wurde von der weißen Welle davongetragen. Die Telefonschnur riss, sie sah die getrennte Leitung als unterbrochene Linie im weißen Raum. Schon wieder so eine filigrane Zeichnung, in die sie geraten war. In einer Art Zeitlupe schaute sie sich dabei zu, wie sie sich auf der weißen Welle aus dem Raum bewegte. Die Lawine entzog ihr das weiße Hemd und umschloss sie nun ganz und gar. Kalt war es nicht, eher lauwarm, nichttemperiert. Die Linie der gerissenen Leitung verblasste, und das Weiß wurde allgegenwärtig. Wieder mischten sich Worte und Bilder in ihr Schweben. Auf einmal fühlte sich das Weiß so an, als sei es aus hauchdünnem Papier und ihr Körper eine gezeichnete Linie, nur Umrisse. Sie rieb eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Sie fühlte sich wie eine Perücke an.
     
    Da saß sie wieder auf dem kühlen Holzboden, das Männerhemd neben ihr. Ihr Leben war

Weitere Kostenlose Bücher