Durch den Wind
ich heiße auch Alison Ginster.«
Sie schwiegen.
Dann fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung: »Wie heißt der Mann, den Sie suchen?«, die Stimme räusperte sich, dann rief die Stimme: »Victor?« wie durch den Raum hindurch, als stünde Victor am anderen Ende des Raums in der japanischen Botschaft.
Alison nickte und musste sich festhalten.
»Alison?« fragte es am anderen Ende der Leitung. »Wie heißt der Mann, den Sie suchen?«
Alison schüttelte den Kopf. Hatte die Stimme nicht gerade seinen Namen gesagt, hatte die Stimme nicht gerade Victor gerufen? Sie fuhr mit dem Mittelfinger über das Kreuz der Werbebroschüre. Es war erhaben. Sie schüttelte erneut den Kopf, dann schaltete sie ihr Telefon aus und legte es quer über das Kreuz.
Nein.
Sie schaute aus dem Fenster.
Nein.
Zwischen ihr und der Straße eine Glasscheibe. Eine große quadratische Glasscheibe, die bis zum Boden reichte. Keine Passanten auf der Straße. Ein paar Autos. Zwei Fahrradfahrer nebeneinander. Ein ganz normaler Sonntag.
Die Frau am anderen Ende der Leitung hatte eine Stimme, die wie ihre klang, sie hieß Alison Ginster und hatte Victors Namen gesagt, auch wenn sie das Victor gerufen hatte, quer durchden Raum und nicht in den Hörer. Konnte es sein, dass just in diesem Moment ein Kollege in ihr Zimmer gekommen war, der auch Victor hieß?
Ein Mann blieb mit einem Stadtplan direkt vor dem Fenster stehen und formte durch die Fensterscheibe hindurch die Worte: Wo sind wir hier? Sie sagte tonlos: In Japan. Der Mann schaute sie erst skeptisch an, dann öffnete sich sein Gesichtsausdruck, und er begann zu lachen. Er winkte, steckte den Stadtplan ein und ging weiter. Als der Mann aus ihrem Blickfeld verschwunden war, sah sie plötzlich schemenhaft, wie sich ihr Lächeln in der Fensterscheibe spiegelte. Sie sah ihr Telefon an, das wie ein Meteorit vor ihr lag.
»Wer war das?« fragte plötzlich eine Stimme von hinten. »Als hättest du einen Geist in der Leitung gehabt.«
Sie drehte sich um. Hinter ihr stand Eduard, der mit Mantel über dem Arm ins Café gelaufen kam und, bevor sie antworten konnte, der Kellnerin hinter der Bar seine Bestellung zurief.
»Ein Geist«, murmelte sie.
Aber ein Geist war das nicht gewesen. Die Stimme hatte nicht wie die Stimme eines Geists geklungen.
Eduard strich ihr über die Schulter: »Alison? Was ist ...? Kann ich dir irgendwie helfen?«
Helfen, schon wieder. Die Stimme hatte ihr auch helfen wollen, bevor sie sie erkannt hatte, bevor sie erkannt hatte, dass sie mit jemandem sprach, der sie selbst sein könnte.
»Kann ich was für dich tun?« fragte er.
Er wollte wirklich helfen. Er war so ein Mann.
»Ruf Siri an, sie ist zu Hause. Oder soll ich Victor verständigen? Ist er schon zurück aus Korea?« Die Kellnerin reichte Eduard eine weiße Papiertüte, er entschuldigte sich, dass erleider wegmüsse, einen Termin habe, dann nahm er sie in den Arm, wie nur Eduard das konnte, und ging.
»Japan«, sagte sie.
Auf der Papiertüte, welche die junge rothaarige Kellnerin Eduard gereicht hatte, war mit rotem Kugelschreiber eine Telefonnummer und ein Schmetterling gekritzelt. Eduard und die Kellnerin? Nein. Wie weit konnten Schmetterlinge fliegen, ohne zu landen? Mauersegler konnten drei Jahre in der Luft bleiben. Drei Jahre. Gab es in Japan Schmetterlinge? Außer denen auf den Kimonos der Geishas? Eduard und die Kellnerin. Niemals. Die Tüte war sicherlich für jemand anderen bestimmt – und der Schmetterling? Wer malte einen Schmetterling auf eine Papiertüte? So viel Leichtigkeit.
Draußen flog eine Taube, von einem Auto aufgescheucht, schräg in die Luft. Wie sehen Mauersegler eigentlich aus? Und woher wusste sie das mit den drei Jahren? Stimmte das überhaupt? Es gab eine Frau in Japan, die ihren Namen trug, mit ihrer Stimme sprach und wusste, wo Victor war. Oder nicht? Sie versuchte sich an das Gespräch zu erinnern. Die Stimme hatte das Victor so seltsam gesagt, so als gehörte es nicht zum Gespräch. Hatte sie tatsächlich nicht ihren Victor gemeint? Konnte es einen solchen Zufall geben?
Siris Wagen parkte auf dem Bürgersteig vor dem Café. Sie stieg aus und stellte sich direkt vor das Fenster. Wie schön sie war, dachte Alison.
Siri schaute ihr erst lange in die Augen, dann winkte sie sie heraus. Siri trug ihre blonden Haare hochgesteckt, einen eng geschnittenen Trenchcoat, hohe dunkelbraune Schuhe und violette Wildlederhandschuhe. An ihrem Handgelenk
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