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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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du ... versteh mich nicht falsch, aber bist du ganz sicher, dass dieses Telefonat wirklich stattgefunden hat?«
    Sie atmete durch: »Ja, ganz sicher. Eduard hat mich dabei beobachtet, ich habe mir das nicht eingebildet.«
    Friederike wartete wieder mit ihrer Antwort, wie um etwas in ihr auszuloten: »Das wollte ich nur noch mal hören.Also, ich glaube zwei Sachen: Entweder diese Frau hat zufällig deinen Namen und eine ähnliche Stimme, so etwas gibt es schließlich – und Victor war gerade in der Botschaft ...«
    »Das habe ich mir auch schon gedacht«, sagte Alison.
    »Oder, aber da wird es jetzt ziemlich abenteuerlich: Diese Frau gibt es nicht wirklich oder jedenfalls nicht so, wie es dich und mich gibt. Und du hast dich in dem Moment, in dem Victor aus deinem Leben verschwunden ist, in deiner Vorstellung irgendwie verdoppelt. Wie, weiß ich nicht. Und ich kann es mir auch nicht erklären, aber vielleicht ist dir das passiert, damit du dich wieder an das Leben erinnerst. An dein Leben. «
    »Mein Leben?« fragte Alison leise vor sich hin.
    Sie schwiegen, dann sagte Friederike: »In der Romantik wimmelte es nur so von Doppelgängern. Wusstest du das?«
    »Dass ich zu romantisch bin?« fragte Alison.
    Friederike lächelte: »Dass du nicht alleine bist.«
    Sie umarmten sich.
     
    Auf dem Weg nach Hause ging es ihr langsam besser, und in ihrem Kopf formte sich eine Frage: Wenn sie tatsächlich eine Doppelgängerin hatte – war sie dann einsamer oder weniger einsam?

3    Kisetsu no kawarime

 
    Sie würde jetzt hinausgehen und etwas machen, was sie noch nie gemacht hatte, seit sie aus Japan hier angekommen war: einen Spaziergang durch den Tiergarten. Dabei würde sie so lange die winterkargen Bäume anschauen, bis etwas in ihr spross – etwas zart Hellgrünes.
    Yoko lief die Friedrichstraße entlang bis Unter den Linden, bog dort ein und überquerte die Straße, um auf dem Mittelstreifen aufs Brandenburger Tor zuzulaufen. Sie hielt nach einer japanischen Touristengruppe Ausschau, so als wäre sie auf Diät und würde sich nach den Süßigkeiten ihrer Kindheit sehnen – diesen zuckersüßen, klebrigen Reisküchlein, die es in allen nur erdenklichen Pastelltönen in dem kleinen Laden an der Ecke gegeben hatte. In Tokio, dieser Stadt, in der sie schon so lange nicht mehr gewesen war.
    Die Linden zeichneten sich hart gegen den hellgrauen Himmel ab. Keine japanischen Touristen weit und breit, es war die falsche Jahreszeit, Berlin war wie ausgestorben. Die Lichterketten, die in der Vorweihnachtszeit jeden der dünnen Äste glitzern ließen, waren vor ein paar Wochen abmontiert worden. Zum Glück. Leuchtspielchen aller Art hatte sie in ihrer Jugend genug gesehen. Was ihr tatsächlich fehlte, waren die vielen Feuerwerke zur Feuerwerksaison und natürlich die Feste zur Kirschblüte. Beides gab es hier nicht, hier gab es Weihnachtsmärkte und Osterhasen und bestimmt noch vieles mehr, was sie aber vollkommen kaltließ.
    Sie ging langsamer als sonst, durch das Winter-Spalier hindurch auf den Tiergarten zu. Etwas Hellgrünes, dachte sie erneutund wunderte sich. Sie zog ihren Schal bis zur Nase und die Schultern hoch. Wie lange hatte sie schon keinen Spaziergang mehr durchs Grüne gemacht und wie lange nicht mehr über die Jahreszeiten nachgedacht. Und das, obwohl die Jahreszeiten für ihre Mutter und ihre Freundinnen so vieles strukturierten: Wie sie sich anzogen, wie sie das Haus dekorierten, welche Bilder sie ab- oder aufhängten, was es zu essen gab und wie sie sich fühlten. Ob es im Westen auch Jahreszeiten gebe, hatte ihre Mutter jeden ausländischen Gast gefragt, der ihr Haus betrat, und nach ihrer Frage sogleich ungläubig den Kopf geschüttelt. Da Jahreszeiten für sie so etwas wie ein japanischer Exklusivbesitz waren, hatte sie nie eine Antwort abgewartet, sondern ohne Zögern einen Vortrag über die Vorzüge der japanischen Jahreszeiten gehalten – wie rund, weich und ausbalanciert sie im Gegensatz zu den westlichen seien, und dass alle Japaner die Jahreszeiten im Blut hätten. Einen Ausdruck hatte sie dabei ständig wiederholt: Kisetsu no kawarime, kisetsu no kawarime. Der Wechsel der Jahreszeiten. Die Gäste hatten wahrscheinlich kaum ein Wort verstanden und ihre Mutter leicht befremdet angeschaut. Ihre Mutter hatte irgendwann abgebrochen und in Richtung ihres Vaters gezischt, dass diese Westler es sowieso nie verstehen würden, weil sie nicht empfindsam genug waren, und ihr Vater hatte zu Boden geschaut

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