Durch den Wind
unberührter wird die Fläche, die hinter mir liegt.«
Friederike schaute Yoko wieder von der Seite an.
»Es geht mir nicht um diesen Mann. Ich habe ihn schon fast wieder vergessen – auch wenn er einen ziemlich schönen Körper hatte«, sagte Yoko mit ihrem spöttischen Lachen, »aber darum geht es wirklich nicht. Es geht um etwas ganz anderes. Er hat keine Spuren in meinem Leben hinterlassen, und weißt du, warum?«
Friederike kniff die Augen zusammen, um Yoko weiter ansehen zu können.
»Weil es mein Leben nicht wirklich gibt. Ich lebe nicht, ich verbringe es nur.«
Friederike bog ein kleines Holzscheit hoch und warf es ins Wasser. Zart gezogene Wellen entstanden auf der glatten Oberfläche. Sie setzte an: »Du ...«
»Ich bin wie der Mann aus der Eiswand, nur ohne das Bergsteigen.«
»Wann hast du das letzte Mal den Mount Fuji gesehen?« fragte Friederike.
»Was?«
»Wann rot gefärbten Ahorn? Wann warst du das letzte Mal in Japan?« fragte Friederike dann.
»In ...?«
»In Japan. Zu Hause, meine ich.«
»Japan ist nicht mein Zuhause.«
»So oder so«, Friederike brach nun ein großes Stück des morschen Holzes aus der Planke. »Es gibt Spuren in deinem Leben, und ihnen zu folgen heißt nicht, den Weg ungeschehen zu machen, den du bis hierher zurückgelegt hast«, undsie spürte, dass ihre Worte trafen, auch wenn sie pathetisch klangen.
»Ich ...«, sagte Yoko und hielt ihren Rücken ganz gerade.
»Es kann nichts passieren, sie werden dich nicht einsperren.«
»Und wenn, dann werde ich sie um den Finger wickeln, die Herrn Polizisten. Darf ich meinen Kopf kurz in deinen Schoß legen?« fragte Yoko, »ich werde gerade ganz müde.«
Friederike drehte nun einzelne Strähnen von Yokos Haaren zwischen den Fingern. Die Haare fühlten sich ganz anders an als ihre eigenen, fast wie eine Perücke, drahtiger und gleichzeitig geschmeidiger. Ihr Körper war leicht und ihre Haut so weiß wie eine Gänsefeder. Wie gerne hätte sie Kinder, die auf ihrem Schoß einschliefen und von Füchsen und Hasen träumten. Kinder, denen sie jetzt den Anorak zumachen würde, die sie im Schlaf streicheln würde, bis sie sich streckten und mit Lust auf Schokolade aufwachten. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. Vielleicht sollte sie Tom fragen, ob sie ein Kind zusammen bekämen. Dann hätte sie ein Kind und er seine Ruhe. Es würde sowieso nie wieder jemanden geben, von dem sie sich so sehr ein Kind wünschte wie von Tom. Egal, wie er sich dann verhielte, sie hätte ein Kind, ein wunderbares Kind mit grauen Augen. Und der Gedanke klang nicht absurd, er klang wie eine Lösung.
Yoko war wirklich eingeschlafen. Wie herrlich das war, wenn jemand auf ihrem Schoß einschlief, wie wohlig sich das anfühlte. Sie dachte an das eine Mal, als sie und Tom hierhergefahren waren, daran, dass Tom hier auf diesem Steg mit ihr schlafen wollte, und wie froh sie war, als es vorbei war und sie schnell ihr Kleid wieder überziehen konnte. Und dass sie sichdanach nicht einmal dafür schämte, dass sie es nicht genießen konnte, sondern nur dachte, dass sie an Seen wirklich lieber schwamm, als mit Tom zu schlafen, und dass das nichts über irgendeine Verklemmtheit aussagte, sondern nur, wie sehr sie diese Orte liebte und wie sehr sie sie erfüllten; und dass Tom immer, wenn sie in der Natur waren, mit ihr schlafen wollte oder irgendwelche Streitereien vom Zaun brach, und dass das nur damit zu tun haben konnte, dass sie hier eine Welt hatte, die er nicht besetzen konnte, weder mit seinen Küssen noch mit seinen Streitereien.
Sie atmete einmal laut ein, dann schaute sie wieder auf das bewaldete Ufer und aufs Wasser. Und das Ufer schaute mit großer Zärtlichkeit auf sie zurück. All das würde sie gerne ihren Kindern zeigen. Wie man auf Gras pfiff und wie man es ausriss, ohne sich zu schneiden.
Alison stand vor ihrer Wohnungstür. Sie lauschte, ob von innen etwas zu hören war, ob Victor vielleicht doch zu Hause war, ob alles nur ein Spuk war oder er einfach wieder aufgetaucht, aber nichts.
Der Flur wirkte, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Das Wohnzimmer duckte sich weg, und in ihrem Schlafzimmer lag ein seltsamer Geruch. Sie zwang sich mit einer gewissen Dumpfheit von Raum zu Raum, versicherte sich, dass niemand da war – natürlich war niemand da! –, setzte sich an den Computer und buchte einen Flug nach Japan. Dann schaute sie sich in ihrem Zimmer um: Hier hatte sie nichts mehr verloren. Wenn
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