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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Rad ihrer Gedanken wieder Boden unter den Füßen: Sie würde sie treffen müssen, sie würde sehen müssen, ob diese Frau nicht nur ihren Namen und ihre Stimme hatte, sondern auch so aussah wie sie. Sie würde nach Japan fliegen.
     
    Ihre Beine schmerzten, eine schmale Schmerzlinie führte vom Fußrücken das Schienbein entlang bis zum Knie und verlor sich dort. Sie stellte sich mit geschlossenen Augen unter die Dusche. Ein lichtes Blau zeigte sich hinter den Augenlidern, als füllte es sie ganz und gar aus. Lange Zeit sah sie nur dieses Blau und lauschte in ihren leergeweinten Körper, dann tauchten erste Schemen auf und gesellten sich zu den Vorboten, die ihre Erinnerung schon seit dem Flughafen bevölkert hatten. Und die Schemen waren breiter und massiver als das, was sich bisher gezeigt hatte. Und sie sagten ihr: Es hatte Tage und Nächte wie diese schon früher gegeben. Es war nicht das erste Mal.
    Sie stieg aus der Dusche und trocknete sich ab. Jetzt ganz schnell aus dem Hotelzimmer, ganz schnell unter Menschen, nicht alleine bleiben. Es war nicht das erste Mal, dass Victor verschwunden war. Sie hatte es nur vergessen. Es war schon öfter passiert.
    Die Erinnerungen kamen wie Paukenschläge, sie versuchte sich unter ihnen wegzuducken, zog ihre Kleider an und lief aus dem Zimmer, den Lift hinunter in den Frühstücksraum, ans Buffet. Schinken, Brötchen, keine Eier. Neben ihr Männer in billigen Anzügen, die wie Vertreter aussahen. An einem Tischdie japanische Reisegruppe. Sie schob sich im Stehen eine gerollte Schinkenscheibe in den Mund, hielt sich am Buffet fest. Am Rande der Schinkenplatte lagen kleine PetersilienBonsais. Ihr war schlecht, schwindelig und elend.
     
    Vom Wolkenkratzer,
    das Frühlingsgrün der Bäume –
    nichts als Petersilie.
     
    In Japan machte man aus Petersilie Haiku, hier legte man sie auf eine Blechplatte mit Schinkenscheiben und Aufschnitt.
     
    Plötzlich hörte sie Friederikes Stimme hinter sich, ihr Arm um ihre Schulter, der vertraute Duft von Friederikes Parfum in ihrer Nase: »Hier bist du, ich habe dich nicht erreicht. Was ist passiert?«
    Friederike. Wenn sie jetzt irgendwer retten konnte, dann Friederike. Woher wusste sie, dass sie hier war?
    »Ich habe erst heute Morgen deine Nachricht gesehen. Was ist los? Du siehst grauenhaft aus«, sagte sie.
    »Meine Nachricht?«
    »Du siehst wirklich grauenhaft aus«, wiederholte sie mit einem sorgenvollen Lachen in den Augen, »du hättest dir wenigstens die Haare kämmen können. Du riechst, als wärst du in die Minibar gefallen.«
    »Ich ...« Sie ließ sich in Friederikes Arm sinken, dann sprach sie weiter: »Ich bin in die Minibar gefallen. Ich habe sogar den Gin ...«
    »Gin? Du? So siehst du aus. Deine Nachricht habe ich sofort gelöscht, falls man dich verhaften sollte.«
    Friederike hielt sie fest im Arm. »Jetzt bestellen wir erst einmal eine Flasche Wasser, und bevor du die nicht getrunkenhast, verlässt du dieses zauberhafte Lokal nicht«, sagte sie, schaute sich mit einem vielsagenden Blick um und bestellte das Wasser bei einer vorbeilaufenden Kellnerin.
    »Victor ist verschwunden.«
    »Mal wieder«, sagte Friederike.
    »Mal wieder?« wiederholte sie leise.
    »Alison, das ist doch nicht dein Ernst? Er ist ein Meister des Verschwindens. Ein Großmeister.«
    »Aber er ...«
    »Ich weiß, er hat seine Gründe, trotzdem: mir reicht es langsam«, sagte Friederike.
    »Ich hatte es vergessen«, antwortete Alison.
    »Komm«, sagte Friederike, »setzen wir uns. Da drüben ist ein Tisch frei.«
    »Was?«
    »Jedes Mal fällst du aus allen Wolken, du bist, was Victor anbelangt, eine Amnesie-Artistin: Schraube rückwärts, und weg ist es.«
    »Nicht zu den Japanern ...«, sagte sie leise, »bitte nicht zu den Japanern.«
    Friederike lotste sie ans andere Ende des Frühstücksraums, bestellte zwei Kaffee und nahm ihre Hände: »Was ist passiert? Wie ist er verschwunden? Und was ist das für eine Geschichte mit dieser Frau?«
    »Woher weißt du das mit der Frau?« fragte sie und blickte sich um.
    »Du hast mir eine vollkommen desolate Nachricht hinterlassen gestern Nacht, du hast gesagt, dass du mit jemandem telefoniert hast, der du selbst bist oder so ähnlich. Deine Nachricht war wie ein Twin-Peaks-Plot mit schwerer Zunge.«
    Alison schwieg. Friederikes Ton tat ihr gut.
    Friederike schaute sie eindringlich an: »Ich höre?«
    »Sie hatte eine Stimme wie ich und meinen Namen und sie hat gesagt ... Sie hat seinen Namen

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