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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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gesagt ...«, wiederholte Alison, »sie hat Victors Namen gesagt, ohne dass sie wusste, wen ich suchte.«
    »Wenn er jetzt endgültig abgetaucht ist ...«, begann Friederike.
    »Obwohl ich mir schon nicht mehr sicher bin, dass sie seinen Namen wirklich gesagt hat«, unterbrach Alison.
    »Wenn er jetzt wirklich abgetaucht ist«, setzte Friederike erneut an, »dann muss es eben ohne ihn gehen. Letzten Dezember ging’s auch ohne ihn, oder?« sagte Friederike.
     
    Letzten Dezember.
    Das hatte sie auch vergessen. Letzten Dezember war er drei Tage verschwunden gewesen. Sie hatte sogar eine Vermisstenanzeige aufgegeben, doch irgendwann war er einfach wieder aufgetaucht. Kurz danach war sie zu Friederike gezogen. Das erste Mal in der ganzen langen Zeit mit Victor hatte sie gedacht, dass sie seine Abgründe nicht mehr aushalten konnte. Doch als sie am nächsten Morgen Friederikes Wohnungstür öffnete, um nach Hause zu fahren und mit ihm zu reden, wäre sie fast über ihn gestolpert. Er hatte vor der Tür gelegen, im Treppenhaus, er hatte vor der Tür geschlafen, dieser riesige, prachtvolle Mann hatte im Treppenhaus geschlafen, um sie nicht zu verpassen, um in ihrer Nähe zu bleiben, um sie nicht zu verlieren. Und als sie dann sprachlos vor ihm stand, war er aufgestanden, ohne mit der Wimper zu zucken, und hatte mit der Würde eines Großfürsten gefragt: »Gehen wir jetzt nach Hause?« Und damit war alles wieder vergessen gewesen.
    »Du weißt, dass er die ganze Nacht vor deiner ...«, sagte Alison.
    »Ja, im Anzug, und er sah so gut aus mit seinem Dreitagebart. Und ja: er ist ein grandioser Mann, ein Magier, ein König. Und trotzdem: er hat ein Doppelleben«, antwortete Friederike.
    »Ein Doppelleben?« fragte Alison.
    »Ja, oder nenn es anders: sein eines Leben gefällt sich an deiner Seite und sein anderes Leben ...«
    »Das Niemandsland in seinem Herzen«, sagte Alison zu sich selbst.
    »Wenn du es so nennen willst«, sagte Friederike, »mir ist das schon wieder zu lieblich.«
    »Aber es gibt ein solches Land in seinem Herzen, mich und dieses Niemandsland. Ich war doch so glücklich mit ihm.«
    Friederike schaute sie fragend an.
    »Ich musste nicht alles für ihn sein. Er hat mich nie überfordert, nie beschnitten. Er hat mich auf Händen getragen, und er roch doch so gut.«
    »Und jetzt?« fragte Friederike.
    »Und jetzt?« wiederholte sie. »Vielleicht ist das Niemandsland über seine Grenzen getreten.«
    Ihre Augen brannten. Sein Geruch. Sie würde nicht ohne ihn leben können. Sie schwieg.
    Friederike nahm ihre Hand: »Wo ist er?«
    »In Japan.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich weiß es. Vielleicht ist er sogar bei dieser Frau.«
    »Alice im Niemandsland?« fragte Friederike.
    Sie schaute Friederike lange an: »Vielleicht.«
    Sie kannte das Niemandsland aus den kurzen Momenten mit Victor, die ihr Leben aus den Angeln gehoben hatten. Und aus der einen Nacht damals.
    Da war er von einer Reise zurückgekommen, hatte sie weder begrüßt noch seinen Mantel ausgezogen, war nur wortlosauf sie zugekommen und hatte sie an die Wand gedrängt und geliebt. Danach hatte sie ihn verführt, ihn auf eine Art und Weise verführt, wie sie es aus ihren Träumen kannte. Federleicht war das gewesen, federleicht und abgrundtief; so als ob in ihrem Körper eine Feder gefallen wäre, ohne auf einem Boden anzukommen. Und er, der sonst im Bett nie stöhnte oder schrie, hatte ein paar Laute von sich gegeben, die nur aus dem Abgrund stammen konnten, auf den sie sich damals gemeinsam zubewegten. Und so war es hin und her gegangen, bis es nichts mehr gab, was sie sich verschwiegen hatten. In dieser Nacht hatten sie nicht ein einziges Wort von den Worten gesprochen, die sie normalerweise miteinander sprachen. Sie hatte ihn nichts gefragt, und er hatte sie nichts gefragt. Er hatte sie nicht einmal beim Namen genannt und nicht ein einziges Mal so geküsst, wie er sie sonst immer küsste. Er hatte ihr in die Augen geschaut und dort eine andere Frau entdeckt, die andere Frau in ihr.
     
    Alison streckte die Arme nach oben, leerte ein ganzes Glas Wasser und erzählte Friederike, was gestern alles geschehen war. Friederike hörte zu und nickte ein paar Mal. Ihre Ohren waren dabei so offen und weich, dass Alisons Worte sich darin ausbreiten konnten wie in einem großen, geschwungenen Fellsessel.
    »Was glaubst du, wer ist diese Frau?« fragte Alison dann.
    Friederike wartete ein wenig, dann sagte sie: »Alison, bist du dir sicher, dass

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