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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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und nach einem kurzen Schweigen von den Alpen angefangen – jedes Mal von den Alpen. Als sie daraufhin einmal verärgert den Kopf geschüttelt hatte, hatte ihre Mutter in einem milden Ton zu ihr gesagt: Du wirst es schon noch spüren, eure Generation kennt dieses Gefühl nicht mehr, aber wenn du älter wirst, wirst du es spüren, du bist eine Japanerin – trotz allem.
     
    Und jetzt, als sie gerade den Tiergarten erreicht hatte, flüsterte sie wieder und wieder: Kisetsu no kawarime, und ein eigenartiges Gefühl breitete sich in ihr aus. Die Geschehnisse der letzten Tage hatten etwas wachgerufen, das sie seit ihrer Ankunft in Deutschland verloren hatte, und das Erste, was ihr dazu einfiel, war der Wechsel der Jahreszeiten und die Suche nach etwas Hellgrünem. Kisetsu, flüsterte sie erneut, und während sie durch das gefrorene Gras spazierte, fühlte sie sich das erste Mal wirklich erwachsen. Nicht wie ihre Mutter, überhaupt nicht wie ihre Mutter, aber erwachsen.
     
    Irgendwann hielt sie an, streckte ihre Arme in die Luft und stand auf einer Brücke, unter ihr der zugefrorene Fluss.
     
    Sie war die ganze Zeit, die sie in Berlin lebte, nie mit den anderen hinausgefahren, nie mit Siri und Felix zum Baden an den Heiligensee; sie war nie in die Parks von Potsdam mitgekommen und schon gar nicht mit Friederike zu den Erkundungen der Mecklenburgischen Seenplatte. Es hatte sie einfach nicht interessiert, auf dem Land konnte man weder arbeiten noch flirten. Außerdem war am Wochenende so viel los in Berlin, dass kein Raum und keine Zeit für Bäume blieben. Es gab doch Männer mit grünen Pullovern und frischen Pfefferminztee, in dem die grünen Blätter so hübsch in den hohen Gläsern schwammen. Wozu also rausfahren?
    Eigentlich hatte neben den grünen Pullovern und den Pfefferminzblättern der Fernsehturm alle ihre Sehnsüchte nach Naturerleben gestillt. Ihn hatte sie regelmäßig so betrachtet, wie man das Meer betrachtete oder eine hügelige Landschaft. Für sie war er der Baum Berlins, und alle anderen Bäume weniger ebenmäßig. Der schlanke, schmal zulaufende Stiel und diese formvollendete Kugel, die auch noch das berühmteLichterkreuz zierte, waren einfach schöner als alles, was man sich zurechtschneiden konnte, und sowieso schöner als das, was die rohe Natur zu bieten hatte. In dieser Beziehung war sie wahrscheinlich sehr japanisch, die ungeformte Natur war für sie kein Quell für ästhetisches Vergnügen, sie selbst war eher für den Steingarten eines Zen-Klosters zu haben als für einen deutschen Mischwald. Und so konnte nicht einmal die Laubfärbung wirklich mit ihrem Fernsehturm mithalten, denn im Herbst spiegelten sich die Sonnenuntergänge in der Kugel des Turms, und dieses Farbspektakel konnte das Grün-Rot-Spektrum des Tiergartens mit Leichtigkeit wettmachen. Am herrlichsten aber war es, wenn der Turm in einem der Berliner Schlechtwettertage verschwunden war und erst Stunden später wieder in vollem Glanz erstrahlte. Welcher Baum konnte sich so rar machen und solche Sehnsucht wecken? Vielleicht müsste sie einen Fernsehturm entwerfen, einen Fernsehturm, der seine Kugel so stolz trug wie eine Baumkrone.
     
    Sie ging auf den Kieswegen entlang und hörte die kleinen Steine unter ihren Sohlen knirschen. Das Geräusch erinnerte sie an die Steingärten, die sie mit ihrer Mutter besucht hatte, und an den Ausruf ihrer Mutter, mit dem sie die gerechten Kieswege bewundert hatte: Was für eine herrliche Natur! Die Steingärten hatten auch ihr gefallen, in der Form war die Natur für sie genug symbolisiert, in der Form war Natur für sie genießbar. Außerdem hatte sich in den Steingärten der Zen-Klöster erstmals ihr Interesse für gebaute Strukturen gezeigt, ihre Lust an genauen Linien, exakt aufeinander abgestimmte Proportionen.
    Sie holte ihr Telefon hervor, das sie schon seit einer Weile in der Manteltasche umklammert hielt, und rief Friederike an. »Können wir rausfahren«, fragte sie, »ins Grüne?«
    »Ins Grüne?« fragte Friederike, und aus ihrer Stimme sprach eine Mischung aus Ungläubigkeit und Amüsiertheit. »Erkennst du diese Farbe überhaupt?«
    »Wasabi und Kopfsalat«, sagte Yoko, »das ist es doch, oder?«
    »Ich wollte zwar gerade in den Laden, aber egal, fahren wir. Mit dem Fahrrad?«
    »Ich habe keins«, sagte Yoko.
    »Du hast kein Fahrrad?« fragte Friederike. »Wie lange lebst du in Berlin?«
    »Nein.«
    Friederike schwieg kurz, dann sagte sie: »Nimm mein altes. Bei mir, in einer

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