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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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halben Stunde?«
    »Ja«, sagte Yoko, »danke.«
    »Yoko im Grünen«, sagte Friederike leise vor sich hin, und dann noch leiser: »Ich hab eine schwarze, schwarze Seite, ich weiß. Ich hab eine Seite so grün, das wirst du nie wissen.«
    Als Yoko vor Friederikes Tür stand, umarmten sie sich, und Yoko fühlte sich knochig an. Friederike schaute ihr kurz in die Augen und dann auf die Stiefel mit den hohen Absätzen.
    »Ich habe keine anderen«, sagte Yoko, »außerdem möchte ich auch nicht gleich Biobäuerin werden, nur weil ich mal ins Grüne fahre.«
    Friederike lachte.
    Yoko fügte hinzu: »Und du musst gar nicht so bodenständig tun, nur weil du ein altes und ein neues Fahrrad hast.«
     
    Sie setzten sich in die S-Bahn und stiegen an der Endstation aus. Draußen war die Luft noch kälter als im Tiergarten, und Yoko zog den Schal höher ins Gesicht. Friederike übernahm die Führung und fuhr zügig durch die Ortschaft, bis sie in einen Waldweg einbog. Links und rechts hohe Bäume. Es wurde immer stiller. Yoko heftete ihren Blick auf Friederikes Rücken.Sie war in dieser Umgebung wie ein Moosboden, auf dem sie wandeln konnte. Wie sicher sie im Sattel saß, die Unbeholfenheit, die sie sonst so oft ausstrahlte, war hier wie weggeblasen. Sie hatte einen schönen, runden Po, dachte Yoko, wie gemacht fürs Fahrradfahren. Ihrer begann schon am Sattel zu reiben.
    »Mein Vater hat Hühner«, sagte Friederike und wendete ihren Kopf im Fahren um. »Wusstest du das eigentlich? Er liebt seine Hühner.«
    Yoko schüttelte den Kopf.
    »Du solltest dir auch Hühner anschaffen. Sie sind das Kreatürlichste, was es gibt.«
    Yoko lachte, und als sie an einer Lichtung stehen blieben, sagte sie: »Meine Mutter hatte ein Wörterbuch, in dem Hunderte von Jahreszeitenwörter gesammelt waren. Alles Wörter, die etwas beschreiben, was es nur zu einer bestimmten Jahreszeit gibt. Ein kleines, ganz zerfleddertes gelbes Buch. Und wenn sie traurig war, dann nahm sie dieses Buch und machte einen Spaziergang. An jeder Ecke blieb sie stehen und blätterte darin.« Sie hielt inne, dann fuhr sie fort: »Und wenn sie nach Hause kam, erzählte sie von den Pflanzen und Insekten und Vögeln, die sie entdeckt hatte. Und als ich sie fragte, wo sie die mitten in Tokio entdeckt hatte, sagte sie: In meinem Wörterbuch natürlich.«
    Friederike schaute Yoko an.
    Yoko hob die Schultern, versuchte zu lächeln und blickte dann zögerlich zu Boden. »Hühner, meinst du?«
     
    Sie fuhren ein Stück weiter und kamen an einen See. Sie setzten sich auf einen alten, leicht brüchigen Steg und schauten über das klare Wasser.
    Es war schön hier, aber auch sehr deutsch, in Japan hätteman einen solchen Ort erst einmal getrimmt, erzogen, gestaltet. Hier konnte man nicht einmal die Anwesenheit eines Gestalters erkennen, geschweige denn seine Handschrift. Yoko holte einen Lippenstift aus der Tasche und malte sich die Lippen rot, dann streckte sie ihren schönen roten Mund in die Luft. »Kennst du eigentlich Die Eiswand? « fragte sie dann.
    Friederike nickte. Nach der Begegnung mit Tom hatte sie alle Bücher von Inoue gelesen. Jetzt standen sie schwer in ihrem Regal.
    »Wenn er das Bergsteigen nicht gehabt hätte, dann hätte sein Leben, seine Arbeit, seine Freundschaft, alles andere keinen Sinn gehabt«, sagte Yoko.
    Friederike schaute auf den See, und wieder keimte dieses Glücksgefühl in ihr auf, das sie immer überkam, wenn sie auf dem Land war. Sie strich mit der Hand über das feuchte Holz der Stegplanken. Sie konnte hier so gut atmen, sie konnte die tiefsten Atemzüge nehmen und so tief in den See schauen, dass sie die kleinen Wasserpflanzen zwischen den Steinen hätte nachzeichnen mögen; sie konnte erkennen, welche Bäume bald treiben würden und wo die Erde noch etwas zu hart war. Sie konnte hier auf dem Steg sitzen und an nichts anderes denken als daran, wie gut das Wasser roch.
    »Vielleicht hängt das mit dem Wörterbuch deiner Mutter zusammen«, sagte Friederike.
    Yoko rieb mit dem Daumen ihren Zeigefinger, und Friederike sah zum ersten Mal, dass Yoko ganz kindliche Hände hatte und winzige Nägel.
     
    »Kanntest du diesen Mann auf dem Fest eigentlich?« fragte Yoko plötzlich.
    »Nein«, sagte sie. »Warum?«
    »Er war doch spurlos verschwunden«, sagte Yoko.
    »Warst du nicht zuerst ...?« fragte Friederike.
    Aber Yoko hörte ihre Frage gar nicht, sondern fuhr fort: »Und weißt du, was unglaublich ist: Je mehr ich nach Spuren suche, desto

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