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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Wehrschilder um die Pupillen herum.
    Als sie in Kioto ankamen, stieg sie mit ihm in ein Taxi und zog ihre Unterhose aus, er strich sich das Wasabi von der Brust und fasste ihr dann zwischen die Beine. Es brannte so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie fragte ihn nach seinem Namen, und er antwortete: »James.«
    So wie sie den Mann genannt hatte, der nach Friederikes Fest aus ihrer Wohnung verschwunden war. Schon wieder eine Dopplung. Warum doppelte sich alles, wenn man in der Mitte des Lebens angekommen war? War das ein Zufall, ein Versehen oder ein Hinweis, dass die Zeit, die bis dahin vor einem hergestürmt war, als könnte man sie niemals einholen, nun ablief?
     
    Sie fuhren in ein Hotel, das er ausgesucht hatte und das ganz ohne Umschweife nur dazu da war, einen gemeinsamen Raum zu liefern, in dem es ein Bett und eine Dusche gab. Für ihn schien das ganz normal – diese Abwesenheit von romantischen Verzögerungen. Vielleicht war das japanisch, dachte sie, vielleicht war das die Folge einer Kultur ohne Minnesang und romantischen Kodex?
    Der Sex mit ihm war dann nicht wie ein One-Night-Stand mit einem fremden Mann aus einem Bus, der in die falsche Richtung gefahren war. Sie schliefen miteinander, als wüssten sie schon. Seine Haut war so weiß wie ihre. Wenn ihre Beine nebeneinanderlagen, konnte sie mitunter keinen Unterschied mehr feststellen – bis sie irgendwann rötliche Stellen bekam von seinen Küssen. Sie schliefen so lange miteinander, bis sie in Japan angekommen war. Und irgendwann in einem Moment, in dem sie erschöpft auf dem Bett lag, merkte sie plötzlich, wie sie sich anders fühlte. Sie betrachtete den jungen Mann, der sie für eine Ausländerin hielt. Und ein Gefühl keimte in ihr auf, das ganz zart und hellgrün war: Der Film, in dem sie eine Hure spielte, lief nicht mehr.
    Sie schaute aus dem Fenster auf die engen Straßen Kiotos. Eine Straßenflucht gab einen Ausschnitt des Flusses frei, der breit und ruhig durch die Stadt floss. Am Ufer liefen ein paar vereinzelte Spaziergänger. Sie stand auf, stellte sich unter die Dusche des kleinen Badezimmers und weinte. Und jetzt, genau jetzt, war sie nicht mehr die Tochter, die ihren Vater getötet hatte; jetzt, genau jetzt hatte sie ihn nicht mehr auf dem Gewissen.
    Sie packte ihren Koffer. Sie würde jetzt den Bus zurück nach Tokio nehmen.

 
    Alisons Zimmer lag in der dreiunddreißigsten Etage. Ihr Alter, dachte sie, zum Glück gab es noch unzählige Etagen darüber, sonst hätte sie es jetzt wirklich mit der Angst zu tun bekommen.
    Sie ließ sich auf das Bett fallen und schlief ein, mit offenen Vorhängen, hoch über der Stadt. Sie merkte vage, wie sie im Schlaf schwitzte und sich hin und her wälzte, wie sie ein paar Mal Yokos Namen rief, dann ihren Kopf am Kopfende stieß und dachte, sie läge in einem Kofferraum.
     
    Irgendwann lag sie dann in einer pflaumenfarbenen Wiese, über sich riesige Ginsterbüsche, und erwachte von mehrmaligem Klopfen. Ein Page brachte ein Paket. Sie ging noch schwankend zurück auf ihr Bett, das Paket vor sich hingeworfen. Sie traute sich kaum, das Seidenpapier aufzumachen. Als sie es berührte, raschelte es. Eine Schlange. Wer schickte ihr ein Paket? Natürlich keine Schlange. Wer außer Yoshihiro wusste überhaupt, dass sie hier wohnte? Ihre Hände zitterten. Sie klappte die Schachtel auf. Ein grünes Oberteil – schulterfrei. Sie wurde kreidebleich. Das Oberteil glitt durch ihre Hände auf das Laken. Victor.
    Ein Satz aus dem Film, den sie im Flugzeug gesehen hatte, fiel ihr ein: Du hast dich selbst angelockt. Ich warte nicht auf dich. Ich bin da. Was sollte das? Wer hatte ihr das Paket geschickt? Und dann, so als sei er mit dieser Nachricht verknüpft, der Satz der Sphinx an Ödipus: Der Abgrund, in den du mich stürzt, ist in dir selbst.
     
    Sie stand auf, ging zum Telefon und wählte Siris Nummer. Es dauerte ewig, dann knackte und tutete es in der Leitung. Eduard hob den Hörer ab. Sie legte wieder auf. Friederikes Nummer. Diesmal ging es schneller, die Leitung schien schon auf ihren Anruf vorbereitet gewesen zu sein. Das Freizeichen klang ganz nah und greifbar. Dreimal tutete es, dann der Anrufbeantworter. Sie legte auf. Es tutete wieder, diesmal weniger nah. Und mit jedem Tuten kam das Signal zu ihr zurück. Niemand da, außer sie selbst.
     
    Allein.
     
    Der Druck stieg, dann riss etwas in ihr entzwei, riss entzwei, ohne dass es weh tat, einfach so. Sie bewegte ihre Hände hin und her, spreizte alle

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