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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Er wirkte noch nicht einmal erstaunt, dass sie vor der Tür stand, schien ihren Besuch erwartet zu haben, wie man einen Schiedsspruch erwartet, und er meinte wohl, ihn schon verloren zu haben. Howard, wollte sie rufen, was ist, du bist doch unbesiegbar? Aber sie rief nichts, sie heftete ihren Blick auf die Fransen und trat über die Schwelle. Sie hatte einen kämpferischen Albert erwartet, einen zynischen, und wenn es ganz schlimm gekommen wäre: einen unberührbaren, aber keinen gerupften. Großmutter rupft ihn, dachte sie, Großmutter rupft Howard Hughes wie den Hahn auf ihrem Hof.
    Albert trat zur Seite. Etwas in ihr wollte ihn umarmen, sich über ihn und seinen gelben Schal freuen, wie sie es immer getan hatte; etwas in ihr konnte ihm nichts übelnehmen, nicht einmal, dass er Vera betrogen hatte und Großvater. Aber er hatte sie nicht angesehen, und sie hatte nicht versucht, seinen Blick zu erhaschen. Also: nichts. Eine Begegnung, glattgebügelt wie sein Hemd.
    Albert deutete den Flur entlang nach rechts, um dann (ohne sich noch eine Geste zu erlauben) links in ein Zimmer einzubiegen. Wie ein Page. Großmutter erniedrigte ihn, er war ein Grandseigneur, kein Page. Aus dem Zimmer, in das er verschwunden war, war ein Sportmoderator zu hören. Albert sah Sport im Fernsehen. Sie hatte immer gedacht, er lese Bücher über Rennfahrer oder Romane von Truman Capote.
     
    Jetzt stand sie allein im Flur. Hinter der Tür dort hinten schien ihre Großmutter zu warten. Wie sie ihr das alles übelnahm – die frische Farbe der Wände, die hohen Räume der Beletage, den Stuck, der himmlische Wesen vorgaukelte – alles. Eigentlich sah es hier aus wie bei ihren eigenen Freunden, nicht wie bei einem Paar, das die Sechzig schon weit hinter sich gelassen hatte. Auf einem kleinen Biedermeiertisch lagen Schlüssel, ein paar Medikamente, die sie nicht kannte, und der blaue Zettel einer Reinigung. Es gab ihn schon – den Alltag, als ob sie nicht gerade erst zwei Leben zerstört hätten. Howard musste also gar nicht so gerupft tun, er war schon bei der Reinigung gewesen, und er schaute eine Sportsendung, weil es nicht nur Alltag schon gab, sondern auch Zeit, die es totzuschlagen galt. Warum also der ganze Aufruhr? Sie schloss kurz die Augen, versuchte tief Luft zu holen und öffnete die Flügeltür zu dem Zimmer am Ende des Gangs.
     
    Kaum stand sie im Raum, hörte sie Großmutter ihren Namen rufen, gleich zweimal hintereinander. Die Stimme überschlug sich dabei fast, klang höher als sonst, schwirrte und traf sie unvorbereitet. Der Ruf ihres Namens heftete sie an die Wand– einmal links und einmal rechts, wie bei einem Messerwerfer, der die Ärmel ihrer Bluse genau unter ihren Achseln getroffen hatte. So stand sie jetzt da. Normalerweise hätte sie den Impuls, Großmutter zu umarmen, nicht unterdrücken können. Großmutter konnte so schön umarmen. Großmutter schmust wie eine Wolke, hatte sie immer gesagt, als sie klein war.
     
    Großmutter saß in einem hellblauen Kostüm mit einem Schal aus hellblauen Lederknoten in einem Sessel. Das Kostüm hatte sie noch nie gesehen, Albert musste es ausgesucht haben. Das Hellblau war so hellblau wie das Gelb seines Schals gelb, nurwar ihrer nicht gerupft, sondern verknotet. Großmutter rief ihren Namen noch einmal (ihr schien auch nichts anderes einzufallen), so als machte sie dazu eine ausholende, raumgreifende Geste. Sie zog die Vokale in die Länge und versuchte aus den beiden schmalen ›Is‹ ›Os‹ oder ›Us‹ zu machen, jedenfalls eine Fülle hervorzubringen, eine Lebens- und Leibesfülle, die weder ihr Name noch die Situation hergab.
    Siri wartete wieder, und immer noch wollte nichts zu ihr hin, nichts wollte ihr verzeihen, nichts wollte verstehen, was hier los war. Die Rufe hingen nun in der Luft zwischen ihnen. Siri hob vorsichtig den Kopf, aber Großmutter saß immer noch da und schaute in ihre Richtung. Diese Mimik, etwas stimmte nicht mit dieser Mimik.
    »Ich hoffe, du hast mich nicht verraten«, sagte ihre Großmutter, und ihr Blick machte Siri Angst.
    »Ich meine, ich hoffe, du hast Bernhardt nicht erzählt, dass Albert dich angerufen ...«
    »Er hat mich nicht ...«, flüsterte Siri leise und räusperte sich. Großmutters Blick ängstigte sie wirklich.
    »Ich kann nämlich gerade keine weiteren Probleme gebrauchen«, sagte Großmutter und schaute dabei an sich herunter. »Ich habe Lähmungserscheinungen in den Beinen, nur leicht, aber trotzdem vollkommen

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