Durch den Wind
Ein neuer Zug war angekommen, und die Menschen hetzten an ihr vorbei. Diese Hetze hatte sie fast vergessen. Wie wenig Zeit gab es hier auf wie wenig Raum.
Die Blicke der Menschen blieben nicht an ihr hängen. Wie wenig man sich hier im Laufe des Tages berührte, und wie ausgeschlossen ein Blick in die Augen war. Die Körper der Männer schauten in ihre Richtung, und ihr Gesicht tat gleichzeitig, als ginge es zur Arbeit. Wie sichtbar die Vermeidungsstrategien hier waren.
Sie trank den letzten Schluck aus der Dose, als ihr Alison wieder einfiel – mit einem Stich in die Magengrube wieder einfiel. Sie hatte sie im Stich gelassen. Stich, dachte sie dann. Alison musste ihn selbst machen, nicht sie. Bis der Strom der Vorbeieilenden abebbte, hatte sie noch zwei Bilder im Kopf: ein Kartenspiel und eine Nadel, dann wurde es wieder ruhig auf dem Bahnsteig. Sie hatte nicht geplant, Alison allein zu lassen. Sie war einfach wieder zurückgegangen, obwohl sie die Schwelle schon überquert hatte.
Sie ging an einem Bus entlang, der demnächst nach Kioto aufbrechen sollte, und schaute sich die Passagiere an. Ganz hinten saß ein schöner junger Mann, dessen Haare sich bis auf die Schultern ergossen. Er trug eine Sonnenbrille und ein lässiges weißes Hemd. Er nahm die Brille ab und schaute sie herausfordernd an. Sie kaufte ein Ticket und einen Bento, einen dieser kleinen Kästen mit japanischen Speisen, und stieg ein. Durch den langen Gang entlang bis nach hinten durch spürtesie, wie ihre Beine in ihrer Hüfte drehten, dann setzte sie sich direkt neben ihn, so dass ihre Schulter seine Schulter berührte, und sagte nichts. Sie begann die einzelnen Speisen aus ihrem Bento zu essen: ein eingelegter Rettich, gekochte, gesalzene Edamame-Bohnen, ein kleiner Happen Teriyaki-Lachs. Sein Hemd hob und senkte sich sichtbar, eine Haarsträhne stieß auf ihre Schulter, und seine Augen schauten auf die Speisen, die in den Unterteilungen des Bentos noch auf sie warteten. Sie begann den Duft zu riechen, den seine Haare verströmten.
In der Mitte der Reisfläche, die die größte Abteilung des Bentos füllte, lag eine kleine, sauer eingelegte Pflaume. Der Saft der Pflaume hatte einen dunkelvioletten Hof um die Frucht gelegt, die Farbe war in die weiße Fläche gesickert, hatte einzelne Reiskörner getränkt und seine Säure abgegeben. Als sie die Pflaume mit den Stäbchen anhob, zeigte sich dort eine Form, die dem Mond glich, wenn er sich in bewegtem Wasser spiegelte. Sie biss ein Stückchen davon ab, dann hob sie eine große Portion Reis an und legte sie sich auf die Zunge. Sie schloss die Lippen und schmeckte den Reis. Der milde Geschmack verband sich mit der Säure, umhüllte sie und löste sie von ihrer Zunge. Sie legte die Hand mit den Stäbchen ab und schaute ihm in die Augen. Sein Blick war nun ganz ruhig. Dann beugte er seinen Kopf hinunter, leckte die süßliche Misosauce von der gebratenen Aubergine, kam wieder hoch und küsste sie, als wäre das die übliche Form der Speiseabfolge. Und er schmeckte ziemlich gut.
Sie zerdrückte etwas Wasabi, das in einem kleinen Hügel neben den rohen Thunfischscheiben lag, zwischen den Fingerkuppen, schob ihre Hand unter sein offenes Hemd in den Raum, den sein Herzschlag und sein wieder schwerer gewordener Atem bespielte, und rieb die grüne Paste auf seine Brustwarzen. Er lachte und sagte: »Später«, auf Englisch mitstarkem japanischem Akzent. Sie nahm die Stäbchen wieder in die Hand.
Er sprach Englisch. Sie aß das Sashimi. Was an ihr hatte sich so verändert, dass er Englisch mit ihr sprach? Für eine Deutsche sah sie wie eine Japanerin aus und für einen Japaner wie eine Ausländerin. Die Jahre waren doch nicht spurlos vorbeigegangen. Aus irgendeinem Grund wurde sie rot. Das war ihr nicht mehr passiert, seit ihr in der Schule der Rock gerissen war. Aber der Schöne sah es nicht, sondern blätterte in seinem Manga, das ein Pärchen bei allen möglichen Stellungen zeigte, wobei die Frau Stiefel und eine Art Motorradgürtel trug. Er hielt ihr verschiedene Bilder hin und schaute sie fragend an. Manchmal nickte sie, manchmal er, manchmal schüttelte er den Kopf, manchmal lachte sie. Er gefiel ihr. Die Iris ihrer Augen schien für ihn keine mysteriöse dunkle Scheibe zu sein, sondern etwas, in dem er lesen konnte, das ihn reizte, ihr nachzuspüren, hinterherzukommen. Bei deutschen Männern hatte sie immer das Gefühl, dass ihr Blick an dem Schwarzbraun abprallte, so als trüge sie kleine
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