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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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nach.
    »Natürlich«, sagte er und wurde auf einmal sehr förmlich. Er verbeugte sich und wies mit der Hand auf die Reihe von Aufzügen. »Ich werde in ein paar Stunden nach Ihnen schauen«, sagte er dann und verbeugte sich erneut.
    Jetzt würde sie allein bis zu den Aufzügen laufen müssen. Sie bedankte sich murmelnd und blickte zu Boden. Es waren ungefähr zwanzig Schritt. Noch einmal dachte sie kurz, sie sollte doch umkehren, nachsehen, ob es tatsächlich Victors Schulter gewesen war und nicht die eines Phantoms, ob sie tatsächlich in dem Hotel gelandet war, wo Victor war, aber es ging nicht,selbst wenn sie ihn dadurch für immer verlieren würde, es ging nicht. Sie musste alleine in den Aufzug steigen und dem Phantom weiter durch Tokio folgen, bis es sich zeigte oder auflöste.

 
    Eine junge Frau mit graublauen Augen sprach Yoko an, einen Stadtplan und ein deutsch-japanisches Wörterbuch in der Hand. Sie betonte jede einzelne Silbe und schaute ihr dabei auf den Mund, als könnte sie aus der regungslos geschwungenen Linie der Lippen ihre nächsten Worte ablesen. Das Geräusch, das die Worte machten, verband sich mit dem Rattern des Zuges, der gerade vor ihren Augen verschwand. Der Zug wurde immer kleiner, und Yoko stand auf dem Bahnsteig des Flughafens in Tokio. Es war alles so schnell gegangen. Und jetzt stand sie hier, und Alison saß auf einem der glänzenden Zugstühle inmitten von Geschäftsmännern und fuhr nach Tokio, auf der Suche nach der Frau, die es vielleicht gar nicht gab.
    Die junge Frau mit den graublauen Augen versuchte es erneut. Und irgendwie gefiel es Yoko, dass sie scheinbar noch japanisch genug aussah, dass man sie auf Japanisch um Hilfe bat. Und obwohl die Frau sogar eine recht passable Aussprache hatte, hätte sie sie am liebsten gefragt, ob es in ihrem Land Jahreszeiten gab.
    Sie schaute sich um – das erste Mal seit der Landung: Narita, der Flughafen von Tokio, von dem sie mit den Röntgenbildern ihres toten Vaters aufgebrochen war. Die junge Frau fragte sie nun etwas über die Zugfahrkarten. Yoko schüttelte den Kopf und blickte zu Boden, als verstünde sie nicht. Dann antwortete sie schnell und nicht besonders deutlich auf Japanisch, sie sei Deutsche und habe nicht verstanden, was sie gerade gesagt habe. Auf der Stirn der Deutschen zeigte sich eine steile Falte, sie hielt kurz inne und sagte dann, genauso gehe es ihr auch.
     
    Yoko ging den Bahnsteig entlang Richtung Haupthalle. Langsam begann Japan zu ihr durchzudringen. Zuerst die Geräusche. Die Stimme der Ansagerin tönte, als überdrehe sie jede Sekunde wie die Rotorblätter eines Plastikhubschraubers. Das Schlurfen der über den Boden gezogenen Schuhe, das ferne Kichern einer Schulklasse. Sie ging jetzt tatsächlich auf die Stadt zu, in der all dies passiert war. Neben ihr zog sich ein Mann eine Dose Kaffee aus dem Automaten. Die Stimme des Automaten, das Klackern der fallenden Dose. Wenn ihre Mutter am Telefon nicht gesagt hätte, dass ihr Mann lebe und ihre Tochter tot sei, dann säße sie jetzt am Hackeschen Markt und tränke Milchkaffee. Aus einem hohen Glas, nicht aus der Dose.
    Jetzt die ersten Oberflächen. Alles war so glänzend hier, der Boden, die Automatentüren, die Scheiben der Züge – alles glänzte. Aber man sah dem Glanz seine Erschöpfung an. Seit den achtziger Jahren zu glänzen war keine leichte Aufgabe, der Wirtschaftsboom war lange vorbei. Die jungen Männer sahen entspannter aus. Früher gab es die Geschäftsmänner, die punkige Subkultur und ein paar Mutige, die versuchten, den Raum dazwischen zu beleben; jetzt überwucherte dieser Zwischenraum die beiden Pole fast. Zwischen Seitenscheitel und Irokesen wuchsen die Haare in die Stirn, wurden gefranst und gefärbt und durften endlich so fallen, wie sie am schönsten waren: gerade, glatt und schwer. Nichts war unattraktiver als kurzes japanisches Haar. Wer wollte schon mit einer Bürste schlafen?
    An einer Säule lehnten gleich zwei dieser langhaarigen Prachtexemplare. Vielleicht sollte sie gleich heute oder morgen mit einem dieser Jungs schlafen, um ein Gespür für die Zeit zu bekommen, die vergangen war; und vielleicht sollte sie danach in ein Teehaus gehen und sich nach allen Regeln derKunst benehmen, um der Zeit habhaft zu werden, die nicht vergangen war und niemals vergehen würde.
    Sie kaufte sich auch einen Milchkaffee aus dem Automaten und setzte sich auf eine der Bänke, in die jemand mit einem Taschenmesser ein Yen-Zeichen eingeritzt hatte.

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