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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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überflüssig. Wie geht es dir?«
    Siri schluckte und schaute auf Großmutters schwarze Glattlederpumps. Ein Tritt in die Magengrube. Der Blick ihrer Großmutter war kalt. Was hatte sie gesagt?
    »Wie geht es Felix? Und Eduard?«
    »Weiß Vera davon?« fragte Siri plötzlich und schaute Großmutter in die Augen. Sie wollte nichts mehr hören. Sie wusste jetzt, was es war. Großmutters Gestik war warm, deswegen hatte sie alle täuschen können, aber ihre Mimik war süßlich, kalt und vertrocknet wie die Rosinenschnecken in der Küche,die sie einfach verlassen hatte – mit einem Lächeln und diesem Blick.
    »Vera?« fragte Großmutter mit unverändertem Ausdruck, »um Gottes willen, nein. Das würde sie zu sehr verletzen.«
    Großmutter log. Sie hatte alle getäuscht, Großvater, sie, Felix, alle. Die Wolke war eine Lüge, das Backen war eine Lüge– alles war eine Lüge.
    »Du lügst.«
    Und dann war es gesagt.
    Großmutter starrte sie mit einem Blick an, der aufgeplatzt war, als wäre er irgendwo aufgeschlagen. Oh, Gott! Was hatte sie da nur getan? Was hatte sie da gesagt? Wie konnte sie nur? Das stimmte doch alles gar nicht.
    »Es tut mir leid, ich wollte nicht ...«, sagte Siri.
    Sie wollte so etwas nicht sagen, niemand durfte so etwas zu Großmutter sagen. Sie war keine Lüge, sie war die Großmutter, die alle Kinder liebten, sie hatte all diese Rosinenschnecken gebacken, sie hatte sie umarmt wie eine Wolke, sie hatte sie nächtelang gehalten, als ihre Mutter gestorben war, sie hatte mit ihr geweint, bis nichts mehr kam. Sie und Großvater waren die einzigen Menschen, die jemals zu ihr gehalten hatten. Wie konnte sie nur denken, dass sie kalt war?
    Doch der Satz nahm den Raum ein. Sie starrten sich an.
     
    Zwischen ihnen wucherte es.
     
    »Siri«, flüsterte sie.
    Siri stand wie versteinert. Die Stimme klang nun ganz anders, vertraut und zärtlich. Sie hatte sich geirrt, es war nur der Schock gewesen und die Angst, alleine zu sein, gar niemanden mehr zu haben. Großmutter wurde kreidebleich.
    »Albert«, rief Siri jetzt.
    Albert kam ins Zimmer gelaufen und schaute sie fragend an.
    »Ich weiß nicht, sie ist auf einmal so bleich geworden. Ich glaube, ihr geht es nicht gut«, sagte Siri, als könnte Großmutter sie nicht mehr hören.
    Albert ging zu Großmutter hin, strich ihr über das Haar und stellte sich neben sie. Großmutter schüttelte fast unmerklich den Kopf.
    Da nahm Albert Siri an der Hand und ging mit ihr aus dem Zimmer.
    Im Gehen sagte er leise: »Wir haben fast alles verspielt, aber glaub mir, wir hatten keine Wahl.« Dann öffnete er die Haustür und schob sie sanft auf den Flur. »Geh jetzt und mach dir keine Sorgen. Sie ist nur müde, es erschöpft sie alles viel mehr, als sie zugibt. Sie ist ein anderer Mensch ohne deinen Großvater.«
    Siri umarmte Albert zaghaft, dann schloss er die Tür hinter ihr, und sie stand draußen. Sie blieb eine Weile stehen, an der Tür kein Namensschild. Dann ging sie die Treppe hinunter. Sie ist ein anderer Mensch ohne deinen Großvater. Eduard. Sie wollte jetzt nur noch nach Hause. Wie gut, dass sie ihn hatte. Wie gut, dass er zu Hause auf sie wartete. Alles würde gut. Was war nur passiert?

 
    Die Bar füllte sich langsam. Das kichernde Paar, das Alison auf Bill Murrays Stuhl hingewiesen hatte, war zum Glück verschwunden. Der Barkeeper war nun ziemlich beschäftigt. Die wenigen Blicke, die er mit ihr wechselte, waren so unverwandt, als hätten sie noch nie ein Wort miteinander gesprochen.
    »Wissen Sie, auf welchem Stuhl Sie da ...?« fragte nun eine Stimme von hinten.
    Yoshihiro. Sie drehte sich um. Er trug einen schwarzen indischen Anzug mit Stehkragen und sah umwerfend aus. Sie konnte ihr Strahlen nicht unterdrücken. »Was glauben Sie denn?« fragte sie herausfordernd und bat, ihm den Stuhl neben sich an.
    »Kennen Sie Scarlett Johansson ...?«
    »Nein. Wer ...?«
    Er kannte sie nicht. Er kannte den Film nicht. Aber: was hatte er dann gerade gemeint, als er sie gefragt hatte, auf welchem Stuhl sie gerade sitze?
    »Eine Schauspielerin«, sagte sie möglichst nüchtern, »und wer ist mein Stuhl?«
    »Ihr Stuhl?« fragte er und setzte sich.
    Sie trank einen Schluck.
    »Warum?« fragte er und schaute in die Karte.
    Er sah wirklich blendend aus, und sie hatte immer gedacht, ihr würden japanische Männer nicht gefallen.
    »Sie hat angerufen«, sagte er dann.
    Ihr stockte der Atem. Oh, Gott.
    »Sie?« fragte sie mit heiserer Stimme.

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