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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Finger so weit auseinander, wie es nur ging. Keine Gabelungen mehr, alle Richtungen offen. Ihre Finger zeigten zitternd wie Seeanemonen in den Raum hinein. Keine Zeichen mehr, nichts mehr, was ihr etwas sagte. Raus hier, raus aus diesem Zimmer!
     
    Die Lobby war wie ausgestorben. Victor (wenn es überhaupt Victor gewesen war) war verschwunden, und mit ihm alle anderen. Wo waren die ganzen Menschen hin, wie viel Uhr war es? Sie fragte den Pagen, wie viel Uhr es war, und er verbeugte sich, sagte »yes, yes«, führte sie zurück in den Aufzug und drückte auf den obersten Knopf. Sie merkte, wie ihre Stimmung plötzlich umzuschlagen begann, wie sie große Lust verspürte, in schallendes Lachen auszubrechen. Was war nur los mit ihrem Leben?
     
    Die Tür öffnete sich in eine Bar mit einem Blick über die ganze Stadt. Sie setzte sich schräg an die Bar, schaute aus der Fensterfront auf die langsam funkelnd aus der Dämmerung auftauchende Stadt. Die Bar war fast leer, ein Pärchen und ein paar Einsame, die alleine unterwegs zu sein schienen wie sie auch. Nur Japaner, kein anderer Ausländer. Der Barkeeper stellte ihr, ohne sie zu fragen, ein hohes Glas hin und goss den kalten Sake so lange ein, bis er knapp überlief, dann verbeugte er sich kurz und wendete sich dem japanischen Paar zu. Sie trank so viel ab, bis sie das nasse Glas in die Hand nehmen konnte. Dass man den Sake hier kalt trank und aus großen Wassergläsern, war erstaunlich, aber sympathisch. War das das Oberteil, von dem Victor am Telefon gesprochen hatte? War er es also doch gewesen – vorhin in der Lobby? Und hatte er sie gesehen?
    Hinter der rot lackierten Bar standen zehn große Zweiliterflaschen Sake mit wunderschön kalligraphierten Etiketten. Darüber mehrere Whiskey-, Gin-, Wodka- und Martinisorten. Das grüne Oberteil, die Sätze aus dem Film, die Sphinx.
    Der Sake lief ihre trockene Kehle hinab. Dann stellte der Barkeeper ihr gesalzene, gekochte Erbsenschoten hin, in Wasabi gehüllte Mandeln und eine Schachtel Marlboro Light.
    Ihr Herz fing an zu rasen, sie fürchtete zu ahnen, wieso er sie wort- und tonlos bediente, und fragte: »Sie kennen mich?«
    Der Barkeeper nickte. Ihr Herz schlug jetzt so stark, dass es sich fast überschlug: »Verzeihen Sie, aber wissen Sie noch, wann ich das letzte Mal hier war?«
    Der Barkeeper stockte kurz, musterte sie und meinte dann teilnahmslos: »Vor einer Stunde.«
    »Vor einer Stunde?« wiederholte sie atemlos.
    Der Barkeeper schüttelte fast unmerklich den Kopf, wendete sich einem Tablett mit Gläsern zu und begann sie zu polieren.
    Vor einer Stunde.
    Es gab sie also, und sie sah anscheinend genauso aus wie sie. Alison Ginster hatte ihren Namen, ihre Stimme und auch noch ihr Aussehen. Was hatte Friederike gesagt? Irgendwas von einer Dopplung, und dass sie sich wieder an das Leben erinnern sollte. Aber woran, woran sollte sie sich erinnern?
    Das japanische Paar hatte sie nun bemerkt und fing an zu kichern. Sie waren sichtlich betrunken. Die junge Frau winkte ihr zu. Sie winkte zurück. Dann sagte die Frau in brüchigem Englisch: »Sind Sie hier wegen des Films?«
    »Welcher Film?« fragte sie.
    »Welcher Film? Ist das ihr Ernst? Lost in Translation natürlich. Sie sitzen genau auf dem Platz, auf dem Bill Murray gesessen hat. Genau da.«
    Sie schüttelte den Kopf und trank einen großen Schluck.
    »Sie kennen den Film nicht? Dabei sehen Sie aus wie Scarlett Johansson, jedenfalls ein bisschen. Sie sind doch Schauspielerin, oder?«
    Alison schüttelte den Kopf erneut, band ihre Haare zusammen und rückte den Ausschnitt ihrer Bluse zurecht. Yoshihiro hatte sie in das Hotel gebracht, in dem Yoko für sie ein Zimmer bestellt hatte. Sie war genau da, wo sie hinsollte. Yoko würde sie finden, Victor würde sie finden, und sie würde Alison Ginster finden.
    Sie kippte den Sake hinunter und bestellte noch einen. Erst einmal trinken. Sie steckte sich eine Zigarette an und schaute durch den Rauch hindurch in ihr neues Leben. Gewollt hatte sie es nicht. Alleine in Japan auf Bill Murrays Stuhl zu sitzen wäre so mit das Letzte, was sie sich hätte vorstellenkönnen, aber ... sie zog noch einmal an der Zigarette, aber es hatte was. Und als sie das dachte, spürte sie einen Stich in ihrem Herzen, und ihre Seeanemonen-Finger fingen an zu zittern.

 
    Albert öffnete die Tür und schaute den Fransen seines gelben Schals hinterher auf den Boden. Kein Blick in Siris Richtung, ein leises Hallo, keiner seiner trockenen Sprüche.

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