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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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nichts für ihn getan hatte, dass sie seit der Fahrt in den Kindergarten gestern Morgen kaum Kontakt mit ihm gehabt hatte, dass sie nicht einmal wusste, wer ihm etwas gekocht und ob er es gegessen hatte. Wo war er überhaupt? Hatte Eduard ihn vielleicht sogar zu seiner Cousine gebracht – in das Land der Handfestigkeit und Sahneherzen? Sie wollte so gerne einmal wieder einen ruhigen Nachmittag mit ihm verbringen, beim Schlittenfahren oder im Park.
    »Siri?« fragte Vera jetzt leise. »Glaubst du, dass Albert ...«
    Siri schwieg.
    »Glaubst du, dass Albert zu Charlotte gegangen ist, weil sie Kinder und Enkel hat, weil sie dich hat, weil sie eine Zukunft ...?«
    Siri schaute Vera an.
    »Ist es so?« fragte Vera.
    Siri würde ihre Frage nicht beantworten können, egal, was sie jetzt sagte. »Natürlich nicht«, sagte sie.
    »Das sagst du nur, weil du selbst ein Kind hast, weil du mich nicht ...«
    »Vera«, sagte sie, »Albert liebt dich. Ich liebe dich.«
    »Aber ...«, sagte Vera, dann verlor sich ihr Blick wieder, und sie schaute auf die Bettdecke. »Nein. Wir haben viel gestritten, dieses Thema hat in unsere Liebe ein riesiges Loch gefressen. Wir hatten immer Spaß miteinander, das schon, aber ....«
    »Vera«, sagte sie erneut.
    »Lass nur, ich weiß es. Es ist in Ordnung, wir haben das Beste daraus gemacht.«
    Sie wollte ihr von Yoko erzählen und davon, dass diese wirklich keine Kinder haben wollte und dass sie damit glücklich werden würde, sie wollte ihr davon erzählen, wie unglücklich sie war, dass sie Felix nicht gerecht wurde, und von all den Statistiken, die zeigten, dass kinderlose Paare glücklicher waren als Paare mit mehreren Kindern. Auch wenn sie Statistiken nicht glaubte, noch nie geglaubt hatte, wollte sie ihr davon erzählen und nicht einen leisen Zweifel an ihrer Aussagekraft zulassen. Aber Veras Ohren hätten ihre Worte direkt aus dem Fenster umgeleitet, sie wären nur verflattert, ohne irgendeinen Trost zu spenden.
    Sie blieb schweigend sitzen, dann stand sie auf und rief Eduard an.
     
    »Hallo«, sagte sie.
    »Hallo, wo bist du?« fragte er.
    »Bei Vera. Hat Felix was gegessen?«
    »Wie bitte?«
    »Hat er was gegessen?«
    »Ja. Nudeln mit Salat.«
    »Mit Salat?«
    Er mochte keinen Salat, er wurde hysterisch, wenn ein Salatblatt an seinen Nudeln klebte.
    »Wann kommst du?« fragte Eduard.
    »Deine Cousine ...«
    »Sie geht, wenn du ...«
    »Salat«, sagte sie und legte auf.
     
    Es ging immer so weiter, auch wenn nichts mehr stimmte, auch wenn sich nichts mehr so anfühlte, als wäre es stimmig, als harmonierte es in irgendeiner Weise mit den letzten verbliebenen Klängen in ihr. Ganz kurz schrillte es disharmonisch, laut, wenn Eduard etwas sagte, was nicht sein konnte, was gelogen war, was für etwas anderes stehen musste, das sich vielleicht Trost nannte oder Liebenswürdigkeit, ganz kurz zerrte die Disharmonie an ihren Trommelfellen, und danach rauschte es schon wieder, leise, vernehmlich, doch ganz anders als das Meer. Und seit einigen Monaten pfiff es auch manchmal, so wie der Wind durch ein kaputtes Fenster in ein leeres Haus pfiff – so pfiff es. Und wieder glaubte ihr keiner. Auch das war gelogen.

 
    Alison und Yoshihiro hatten sich verspätet. Yoshihiros Freundin saß in einer Ecke an einem kleinen Tisch und rauchte. Alison erkannte sie sofort, weil ihr Blick so viel Erwartung in sich trug, dass er ihnen fast die Tür eingedrückt hätte. Eigentlich war sie eine schöne Frau, aber die Verbitterung hatte ihre Augäpfel gelblich gefärbt, und die Färbung ließ auch alles andere an ihr vergilbt erscheinen.
    Alison setzte sich abseits an einen Tisch und bestellte einen Whiskey, weil sie Yoshihiro vorhin das Wort Whiskey hatte aussprechen hören und es machbar geklungen hatte. Der Kellner nickte und brachte einen Kaffee. Sie löste das Band aus ihren Haaren und beobachtete die Szene. Die Auseinandersetzung an Yoshihiros Tisch war unauffällig. Er sagte fast nichts, seine Freundin steckte sich eine Zigarette nach der anderen an und rieb sich zwischendurch den Rauch in die Augen.
    Alison trank ihren Kaffee. Es war ihr nicht unangenehm, hier alleine zu sitzen, nicht einmal die verhohlenen Blicke der Männer um sie herum waren ihr unangenehm.
    Yoshihiro wollte offenbar seine Freundin nicht einmal davon abhalten, ihn zu verlassen. Das Ganze wirkte wie die Szene aus einem französischen Film, nur dass die Protagonisten wie Japaner aussahen und die Statisten ziemlich

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