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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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barfuß über die kalten Steine und stieg in das Becken, das so heiß war, dass sie anfangs dachte, sie könne es niemals aushalten, aber sie stieg einfach hinein, so wie sie einfach in die Botschaft marschiert war. Sie tränkte den Lappen und legte ihn sich auf den Kopf, wie sie es in japanischen Filmen gesehen hatte.
    Die Luft war klar und kalt. Sie saß nackt in dem heißen Wasser, und in diesem Moment vollendete sich ein Kreis, der in dem Schwimmbad in Berlin angefangen hatte. Einzelne Tropfen rannen von dem nassen Lappen über ihre Stirn.
    Vielleicht war Victor gar nicht verschwunden, sondern sie.
    Sie bewegte ihre Zehen durch das heiße Wasser. Alles, was vor diesem Augenblick hier in diesem Garten in diesem Becken war, verschwamm. Ihr Blick weitete sich, und sie sah, wie die alte Dame sie durch die Glasscheibe hindurch mit einem tiefen Lächeln anschaute. Sie musste nicht zurücklächeln, denn sie hatte damit angefangen.
    Das Leben ändert sich in einem Augenblick. Von einem Moment zum anderen hört das Leben, das man kennt, auf. Ihr Leben, das sich so wohlig angefühlt hatte, dass sie es manchmal gar nicht mehr bemerkt hatte, hatte in dem Moment aufgehört,als Victor nicht am Flughafen angekommen war; und in dem Moment, in dem sie durch die offene Tür von Yoshihiros Wohnung der glitzernden Stadt entgegengelaufen war, da hatte ihr Leben noch einmal aufgehört und gleichzeitig ein anderes angefangen. Sie hatte viel weniger zu verlieren gehabt, als sie gedacht hatte.
    Und jetzt wusste sie auf einmal, dass sie keine Angst mehr davor haben musste, diese andere Frau zu treffen, dass es diese Doppelgängerin anders gegeben hatte, als sie gedacht hatte.
    Die alte Dame hinter der Glasscheibe des Badhauses wandte ihren Blick ab und nahm ihre Arbeit wieder auf, begann mit feinen Bewegungen erneut die Handtücher zu falten, die neben ihr lagen, eines nach dem anderen, so als wäre die Zeit nie in Sekunden geteilt worden. Alle Zeit der Welt in diesem Augenblick. Die Gedanken spulten sich langsam und ruhig in ihrem Kopf ab und irritierten sie nicht. Sie waren einfach da, wie das Plätschern des Wassers und das Rascheln der Blätter um sie herum. Sie formte mit ihren Lippen ihren Namen.
     
    Alison Ginster badete in einem hölzernen Wassertrog in einem Badehaus in Tokio. Alles andere war früher.

 
    Friederike hatte Stasiuk umgedreht, mit dem Kopf nach unten auf den Beifahrersitz gedrückt, und fuhr nun langsam auf der rechten Spur zurück nach Mitte. Stasiuk war nicht wie sie, er lebte nicht in seinen Texten, er war ein solches Mammut an Lebenskraft, dass er niemals in seine Bücher passen würde. Er schrieb seine Bücher nicht, um sich ein Leben zu erfinden, er schrieb seine Bücher, wie er soff, liebte und in alten Autos durch vergessene Landschaften fuhr.
    Der Alexanderplatz lag vor ihr, der umgedrehte Stasiuk neben ihr – beide schwiegen, beide taten teilnahmslos, die teilnahmslosen Tataren.
    Dass es auch noch Neun hieß, Stasiuks Meisterwerk, neun Monate, neun Monde, Neumond, neuer Mund, neues Leben. Würde sie wirklich ein Leben zur Welt bringen? Eines, das atmen konnte? War es wirklich möglich, dass man nicht spürte, wenn in einem drin, mitten in der Mitte des eigenen Körpers, ein neues Leben entstand?
    Stille. Keine Antwort. In den kurzen Augenblicken, in denen man umsonst spricht, ist es so, als stürbe man. Freud hatte es gewusst. Noch ein Text, und gleich würden noch mehr kommen, das war immer so, wenn es erst einmal anfing, dann kamen sie einer nach dem anderen, die Texte, die sie in sich gehortet hatte, um ihre Sehnsucht zu umranken. Wenn erst einmal ein winziges Wesen mit grauen Augen auf ihr herumsprang, würde sich das vielleicht ändern, dann wären die Texte vielleicht in einem kleinen Raum verstaut und der Rest von Bullerbü erfüllt. Ein schöner Gedanke, aber auch einer, derihr Angst einflößte. Traum und Tod, dachte sie. Noch einmal Freud.
    Auf der rechten Seite der Plattenbau, auf dem Stellen aus Döblins Berlin Alexanderplatz in dunkelgrauen, graphischen Buchstaben aufgemalt waren. Eigentlich waren für sie diese Buchstaben der richtige Alexanderplatz, und nicht der Platz, über den man fahren konnte. Dieser Platz kam einer Farce gleich, über die Döblin gelacht oder geweint hätte, wahrscheinlich eher geweint. Aber jetzt dachte sie, dass sie damit vollkommen falsch lag, weil sie selbst es war, über die er geweint hätte, weil sie mehr in seinen Buchstaben lebte als auf der Straße und

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