Durch den Wind
und wahrscheinlich das Pendant zu dem rotzigen Rauswurf eines Berliner Kollegen. Sie fragte den Taxifahrer: »Mögen Sie Haiku?« und er sagte: »Nein, danke.« Was hatte sie erwartet?
In der Botschaft sagte sie »Alison Ginster«. Der Pförtner ließ sie ein, sagte eine Zahl, die wie »103« klang, und schaute wieder zu Boden. Er trug ein Toupet, und man konnte einzelne Haare sehen, die an einem beigefarbenen Stoff angenäht waren. Sie dachte an das 103, eines ihrer Lieblingscafés in Berlin, in dem Maxim Biller herumschlich und die Kastanienallee endete. Gab es hier überhaupt Kastanien? Aus dem Aufzug kam eine Gruppe junger deutscher Männer und grüßte. Bis hierhin hatte sie nicht bemerkt, was sie gerade tat.
Sie ging den Flur entlang bis Zimmer 103. Sie klopfte, es war niemand da. Sie öffnete die Tür, der Schreibtisch war aufgeräumt. Sie setzte sich und wartete. Ihr Herz schlug. Sie musstenicht lange warten. Das Telefon klingelte, als hätte es auf sie gewartet.
Sie hob ab, eine Frauenstimme sagte, es gebe eine Vermisstensuche, die Anfrage käme aus Berlin. Dann erklang kurz Beethoven, der Beethoven, den sie in dem Café in der Linienstraße gehört hatte, in dem die rothaarige Kellnerin Schmetterlinge an Eduard geschickt hatte. Sie musste Siri anrufen. Dann knackte es, das Knacken, das sie in dem Café in der Linienstraße gehört hatte, wo Siri so bezwingend schön vor dem Fenster gestanden hatte. Dann hörte sie eine Stimme, die niemand anderem gehörte als – Victor: »Hallo?«
Sie dachte, es müsste ihr die Sprache verschlagen, aber sie sagte leise: »Ja?«
Und er fragte: »Können Sie mir helfen?«
Nein, dachte sie, kann ich nicht.
»Ich suche meine Frau.«
Sie versuchte etwas zu sagen, aber es gelang ihr nicht, er fuhr fort: »Sie heißt Alison Ginster.«
»Ich ...«, fing sie an.
»Sie ist allein«, sagte er leise.
»Nein«, sagte sie.
»Was?« fragte er. »Wer?«
»Ich ...«, sagte sie wieder.
»Hallo? Ich verstehe Sie so schlecht, die Leitung ...«, sagte er. Das Knacken. Er hörte es auch.
»Ich habe sie gefunden«, sagte sie dann.
»Was? Sie? Wer sind Sie? Wo ist sie?« fragte er. Ihre Stimme. Er erkannte sie nicht.
»Hier«, sagte sie und: »jetzt«, und legte auf.
Dann erhob sie sich, ging hinaus und öffnete die Tür des Taxis, das vor der Botschaft wartete. Im Fond des Wagens saß Yoshihiro und schaute zu Boden: »Fahren wir?«
Sie nickte.
Die Kreuzungen mit den Menschenmassen, die sie passierten, kamen ihr jetzt schon vertrauter vor. Die Ordnung der Menschen, wie sie an den Ampeln standen, wie die Autos sich einreihten, in welchen Intervallen die Leuchtreklamen blinkten – alles erschien ihr jetzt wie ein Refrain, den sie mitsummen konnte. Es war nicht ihr Lieblingslied, und es würde auch nie ihr Lieblingslied werden, aber sie konnte es wenigstens mitsummen.
Yoshihiro ließ das Taxi halten.
»Wollen Sie baden?« fragte er.
Baden?
Ja, sie wollte baden. Sie wollte sogar unheimlich gerne baden, baden war genau das, was sie jetzt wollte.
»Dann warte ich hier auf Sie«, sagte er und deutete mit dem Gesicht auf das kleine alte Haus, vor dem das Taxi gehalten hatte. Gerade waren sie noch an einer Reihe von Hochhäusern vorbeigefahren, von denen Berlin nur träumen konnte. Das war Japan. Hier gab es Automaten für gebrauchte Mädchenunterwäsche und den erotischen Kult um entblößte Nacken, das bis zur Verzerrung verlangsamte Tempo der Teezeremonie und das Fast-Forward der Supermarktkassiererinnen. Es gab beide Enden des Spektrums und wenig Greifbares dazwischen. Baden. Langsam fühlte sie sich sogar aufgehoben in diesem Land, in dem die Menschen in der Bahn schliefen, als wären sie allein und bräuchten keine Kopfkissen. Sie stieg aus. Er rief ihr noch nach, sie solle am Empfang seinen Namen nennen.
Die alte Dame verbeugte sich tief und schaute sie eindringlich an. Alison sagte Yoshihiros Namen, und die alte Dame verbeugte sich erneut, dann deutete sie mit einer langsamen Handbewegung nach links, und sie gingen durch eine Schiebetür in einen kleinen Raum. Dort entkleidete sich Alison, duschte in der mit ungeschliffenem Granit ausgelegten Dusche und wickelte sich in einen Leinenbademantel. Dann öffnete sie die Tür in das Bad hinein. Die alte Dame wartete hinter der Tür, verbeugte sich erneut, gab ihr einen kleinen weißen Lappen und zeigte dann auf ein dampfendes Becken, das in dem kleinen Garten hinter der Glasscheibe lag.
Sie ging
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