Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
was wir wissen können, ist jederzeit in unserem Bewußtsein präsent. Gott hat uns einen kleinen Zipfel von seinem großen Mysterium verstehen lassen, aber nicht alles. Und über das, was wir nicht verstehen, müssen wir eben schweigen.«
Cecilie überlegte sich das Ganze noch einmal.
»Dann ist es bei uns anders. Wir versuchen immerzu, mehr zu verstehen. Plötzlich geht uns etwas Neues auf. Die Allerklügsten bekommen für solche Entdeckungen den Nobelpreis, jedenfalls, wenn ihre Entdeckungen für die ganze Menschheit von Bedeutung sind. Es geht ungefähr so wie beim Körper, der wächst. Genauso wächst unser Verstand.«
»Aber ihr könnt auch vergessen. Auf diese Weise geht ihr zwei Schritte vor und einen zurück.«
»Vielleicht. Aber selbst, wenn wir etwas vergessen, ist es nicht notwendigerweise völlig verloren. Plötzlich kann es wie ein Springteufelchen wiederauftauchen.«
»Das ist der große Unterschied zwischen Menschen und Engeln. Wir wissen nicht, was Vergessen bedeutet, deshalb kennen wir auch das Erinnern nicht. Ich weiß heute weder mehr noch weniger als vor zweitausend Jahren. In der Zwischenzeit ist das Wissen der Menschheit jedoch beträchtlich angewachsen. Nicht alle Engel finden diesen Unterschied gut.«
»Ich wußte gar nicht, daß ihr neidisch sein könnt.«
Ariel lachte.
»Unser Neid sitzt aber auch nicht sehr tief.«
»Können eure Gedanken denn sehr tief sitzen? Großvater sagt ab und zu, daß er sehr tiefe Gedanken denkt.«
Ariel schüttelte den Kopf.
»Weil immer alle unsere Gedanken im Bewußtsein präsent sind, haben wir nie die Freude, uns selber mit plötzlichen Tiefsinnigkeiten zu überraschen. Wir können aus keinem solchen Grenzland schöpfen. Unser Bewußtsein bewegt sich nicht über ein aufgewühltes Meer, in dem längst vergessene Gedanken plötzlich wie fette Fische aus der Tiefe auftauchen können.«
»Du hast gesagt, Engel schlafen nicht ...«
»Nein, wir schlafen nie, deshalb träumen wir auch nicht. Was ist denn das für ein Gefühl?«
»Ich fühle nichts.«
Er nickte kurz.
»So wie ich nicht fühle, daß ich durch die Luft schwebe. So wie ich nicht fühle, daß ich einen Schneeball anfasse .«
Cecilie sagte:
»Träumen ist eine Art zu denken ... oder zu sehen. Vielleicht beides auf einmal. Aber wenn wir träumen, bestimmen nicht wir, was wir denken und sehen.«
»Das mußt du genauer erklären.«
»Wenn wir träumen, denkt unser Kopf ganz von selbst.
Erst dann kannst du von einem richtigen Theater sprechen. Ab und zu wache ich auf und weiß noch, daß ich ein ganzes Theaterstück geträumt habe - oder von mir aus auch einen Film.«
»Den du selbst machst, denn du spielst alle Rollen.«
»Im Grunde schon.«
Ariel war jetzt ganz eifrig.
»Wir können vielleicht sagen, daß die Gehirnzellen sich gegenseitig Filme zeigen. Gleichzeitig aber sitzt der Film ganz hinten im Kino und sieht sich selber auf der Leinwand.«
»Das klingt lustig! >Die Gehirnzellen zeigen sich gegenseitig Filme .< Ich kann sie richtig vor mir sehen.«
»Denn wenn ihr träumt, seid ihr Filmstars und Publikum auf einmal. Ist das nicht geheimnisvoll?«
Sie zuckte zurück.
»Ich finde es ein bißchen unheimlich, darüber zu reden.«
»Aber es ist doch bestimmt ein lustiges Erlebnis. Du wirst Zeugin eines ganzen Feuerwerks von Gedanken und Bildern in deinem Kopf, obwohl du nicht eine einzige Rakete selber abgeschossen hast. Das ist fast wie eine Gratisvorstellung.«
Sie nickte.
»Es kann sehr lustig sein, aber auch ziemlich unheimlich, wir träumen ja nicht immer lustige Träume. Wir können auch häßliche oder ekelhafte Träume haben .«
Er war jetzt sehr verständnisvoll.
»Natürlich ist es schade, daß ihr euch auf diese Weise selbst quält. Am besten wäre es, wenn ihr einen Film ausschalten könntet, der euch nicht gefällt. In eurem Kino müßte es einen Notausgang geben. Aber weil eure eigene Seele das Kino ist - und deshalb die Filme aussucht -, ist das unmöglich. Ihr könnt ja nicht vor eurer eigenen Seele davonlaufen. Ihr könnt euch nicht selbst in den Schwanz beißen. Oder vielleicht macht ihr gerade das. Ihr beißt euch in den Schwanz, bis ihr vor Entsetzen und Grauen schreit und heult.«
Cecilie knabberte jetzt an ihren Fingernägeln. Sie sagte:
»Ich will aber nicht, daß es so ist. Nur kann ich nicht einfach beschließen, bloß noch lustige Träume zu träumen. Ich muß alles hinnehmen, wie es kommt. Nach einer langen Nacht kann ich erwachen und glauben,
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