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Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Titel: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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lagen in einem eigenen Fach. Sie zog ihr Nachthemd aus und holte T-Shirt, Strumpfhose, Pullover, Skihose und Anorak aus dem Schrank. Sie fand Schal und Mütze, Handschuhe und dicke Socken. Bald saß sie auf der Bettkante und schnürte die Skistiefel zu. Als sie fertig war, sah sie zu Ariel hoch.
    »Würdest du bitte die Skier für mich tragen?«
    Sie gingen durch den Flur und schlichen sich die Treppe hinunter ins Erdgeschoß. Cecilie schloß die Haustür auf und ließ Ariel mit den Skiern an sich vorbei. Dann ging auch sie hinaus und machte die Tür vorsichtig hinter sich zu.
    Sie gingen an der Scheune vorbei. Hier zog sich ein steiler Abhang zum Fluß und zu dem großen Tannenwald hinunter. Cecilie trat mit ihren Skistiefeln in die Bindungen und streifte sich die Schlaufen der Stöcke über die Handgelenke. Das Mondlicht zeichnete scharfe Schatten in den Schnee.
    »Ich versuche mal, den Hang runterzufahren«, sagte sie.
    »Du mußt hinterherkommen. Auf diese Gelegenheit habe ich schon so lange gewartet.«
    Schon fuhr sie los. Aber der Engel Ariel lief ihr nicht hinterher, er schwebte dicht neben ihr durch die Luft.
    »Jetzt fliegen wir beide«, sagte er. »Der einzige Unterschied ist, daß ich es nicht spüre.«
    »Es ist herrlich!« rief Cecilie. »Einfach engelhaft!«
    Als sie unten angekommen waren, fiel Cecilie im lockeren Schnee auf die Nase, und sie lachten beide.
    Sie rappelte sich auf und zeigte auf den Tannenwald.
    »Zum Ravnekollen führt eine gute Loipe hinauf. Von oben hat man einen herrlichen Ausblick über das ganze Tal.«
    Einen Moment schien er sie prüfend zu mustern, aber es dauerte wirklich nur einen Moment.
    »Schaffst du die ganze Strecke?«
    Sie war schon unterwegs.
    »Im Moment komme ich mir bärenstark vor!« jubelte sie.
    Sie erreichte die tiefe Loipenspur, und Ariel wuselte um sie herum wie ein fliegender Hund beim Sonntagsspaziergang; mal links, dann wieder rechts. Ab und zu lief er auch ein Stück.
    »Frierst du nicht, wenn du barfuß durch den Schnee läufst?« fragte sie.
    Er seufzte nachsichtig.
    »Wir wollen doch nicht noch mal ganz von vorn anfangen?«
    Cecilie lachte.
    »Es ist einfach so ein verrückter Anblick. Hast du gewußt, daß es Fakire gibt, die alle Sinne ausschalten können, so daß sie weder frieren noch sich verbrennen? Sie können sogar auf einem Nagelbrett schlafen!«
    Er nickte.
    »Wir sind genauso oft in Indien wie in Norwegen.«
    Sie erreichten den Wald, wo die Loipe sich zwischen den dichtstehenden Bäumen hinzog. Ab und zu machte Ariel eine Abkürzung und glitt einfach durch einen Stamm hindurch. Einmal huschte er durch ein dichtes Gestrüpp. Für ihn war das schließlich nur ein Nebelfetzen.
    Am letzten Hang unterhalb des Ravnekollengipfels mußte Cecilie auf Grätenschritt wechseln, um nicht auszurutschen. Bald standen sie oben auf der Hügelkuppe. Hier wuchsen keine Bäume. Cecilie hob einen Skistock und zeigte auf die gefrorene Landschaft, die in Mondlicht gebadet lag.
    »Als ich klein war, habe ich das hier für das Dach der Welt gehalten«, sagte sie. »Und wenn Großmutter von Odin erzählte, der in seinem Hochsitz saß und von dort die Welt im Blick hatte, hab ich mir vorgestellt, daß es hier war. Du hast doch sicher von seinen beiden Raben gehört?«
    Ariel nickte.
    »Hugin und Munin. Das bedeutet >Gedanke< und >Sinn<.«
    »Das hat Großmutter auch gesagt. Denn in gewisser Weise waren es seine Gedanken und sein Sinn, die er in die Welt hinausgeschickt hat.«
    Wieder nickte Ariel. Dann sagte er etwas Seltsames:
    »Du weißt vielleicht noch, wie wir über das >innere Auge< gesprochen haben, das alle Menschen haben, für Blinde aber besonders wichtig ist. Auch das besteht aus >Sinn< und >Gedanke<. Hugin und Munin waren also Odins inneres Auge.«
    Cecilie riß die Augen auf. Warum war sie nicht schon selbst auf diesen Gedanken gekommen?
    Der Engel Ariel fügte hinzu:
    »Gott ist allwissend. Und er kann an mehreren Orten zugleich sein. Das konnte Odin nicht, aber er hatte immerhin seine beiden Raben. So wurde auch er allwissend.«
    Cecilie hob wieder den einen Skistock und zeigte noch einmal auf das Tal.
    »Siehst du die vielen Höfe?« fragte sie. »In fast jedem Haus kenne ich jemanden. Da unten liegt die Schule ... der weiße Strich, der sich durch die Landschaft schlängelt, ist der Fluß. Er heißt Leira. Marianne wohnt in dem gelben Haus auf dem anderen Ufer.«
    »Das weiß ich, Cecilie.«
    »Unten links kannst du die Lichter von Kl0fta sehen, und der

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