Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
auf Kreta gewesen zu sein. Und irgendwie war ich es auch, denn im Traum habe ich ja geglaubt, daß der Traum dort passiert ist.«
Ariel musterte sie mit seinem klaren, energischen Saphirblick.
»Genau!«
»Was?«
»Nicht so eilig! Träumt ihr auch manchmal, ihr fliegt - oder geht durch verschlossene Türen?«
»Sicher, im Traum ist alles möglich, jedenfalls fast alles. Ich brauche nicht mal zu schlafen. Auch wenn ich hellwach bin, kann ich meine Gedanken fliegen lassen. Ich kann hier im Haus umherflattern ... oder in fremden Ländern. Einmal habe ich geträumt, ich sei auf dem Mond. Marianne und ich hatten hinter der alten Molkerei ein Raumschiff gefunden. Und dann haben wir einfach auf einen Knopf gedrückt und sind losgeflogen.«
Ariel schwebte jetzt wieder unter der Decke herum. Nach einer kleinen Runde durchs Zimmer ließ er sich auf dem Stuhl vor dem Bett nieder.
»Dann ist ja alles klar«, sagte er.
Cecilie schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ich kapier gar nichts mehr.«
Er zeigte auf ihre Stirn und sagte: »In Gedanken könnt ihr alles tun, was Engel mit dem ganzen Körper machen. Wenn ihr träumt, könnt ihr in euren Köpfen genau dasselbe machen wie die Engel in der ganzen Schöpfung.«
Sie war leicht verwirrt.
»Aber das ist noch nicht alles«, sagte Ariel. »Wenn ihr träumt, kann euch nichts passieren. Dann seid ihr so unverwundbar wie die Engel im Himmel. Dann ist alles, was ihr erlebt, pures Bewußtsein, und ihr benutzt die fünf Sinne eures Körpers nicht.«
Cecilie kam ein neuer Gedanke. Sie richtete sich auf und sagte energisch:
»Dann ist unsere Seele vielleicht unsterblich! Dann ist sie vielleicht so unsterblich wie die Engel im Himmel.«
Ariel zögerte mit der Antwort.
»Jetzt verstehst du jedenfalls etwas besser, wie es ist, ein Engel zu sein. Obwohl wir vor allem darüber gesprochen haben, wie es ist, ein Mensch aus Fleisch und Blut zu sein, hast du auch etwas von den himmlischen Dingen begriffen. Denn der Himmel spiegelt sich in der Erde wider.«
Sie machte noch einen Versuch:
»Und die Seele ist göttlich, nicht wahr?«
Als er keine Antwort gab, glaubte sie, ihn am Verschwinden hindern zu müssen.
»Du hast versprochen, mehr zu erzählen«, sagte sie.
Er nickte.
»Aber gerade jetzt kommt deine Mutter die Treppe herauf. Deshalb muß ich ganz schnell durch den Spiegel verschwinden.«
Sie blickte sich im Zimmer um.
»Von welchem Spiegel redest du eigentlich die ganze Zeit?«
Er hatte den Stuhl verlassen und stand jetzt mitten im
Zimmer. Seine Umrisse wurden immer unschärfer. Ehe er ganz verschwand, sagte er:
»Die ganze Schöpfung ist ein Spiegel, Cecilie. Und die ganze Welt ist ein dunkles Wort.«
V iele Tage verstrichen, ohne daß der Engel Ariel sich wieder sehen ließ, aber immer saß irgendein Familienmitglied auf dem Stuhl vor dem Bett. Kristine kam fast jeden Tag, obwohl inzwischen auch Mutter und Großmutter gelernt hatten, die Spritzen zu setzen. Cecilie wußte nicht immer, welcher Tag gerade war oder welche Tageszeit. Wenn sie es schaffte, schrieb sie ab und zu neue Gedanken in das chinesische Notizbuch.
Skier und Schlitten lehnten an der Wand zum Elternschlafzimmer. Der Winter bot noch immer gute Skiverhältnisse. Cecilie war fest entschlossen, gesund zu werden, ehe der Schnee verschwand. Sie wollte nicht ein Jahr warten müssen, bis sie wieder in der Loipe stehen konnte.
Den anderen gegenüber erwähnte sie Ariel nie. Er hatte mit der übrigen Familie nichts zu tun, denn obwohl Cecilie hier in Skotbu ein Mitglied der Familie war, war sie auch ein Mensch, der allein zwischen Himmel und Erde stand.
Aber was war aus Ariel geworden? Er hatte ihr doch versprochen, noch mehr über die himmlischen Dinge zu erzählen! Und er hatte doch auch gesagt, daß Engel nie lügen!
Er hatte sie ja wohl nicht hereingelegt? Hatte er Cecilie etwa dazu gebracht, ihm ausgiebigst zu erzählen, wie es war, ein Mensch aus Fleisch und Blut zu sein, um sich dann zu verdrücken, ohne seinen Teil der Abmachung eingehalten zu haben?
Sie öffnete die Augen. Fast im selben Moment kam ihre Mutter ins Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. Cecilie starrte sie mit leerem Blick an.
»Hast du wieder Zwiebeln geschnitten?« murmelte sie.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. Trotzdem sagte Cecilie:
»Ihr eßt viel zu viele Zwiebeln.«
Cecilies Mutter fuhr ihr mit der Hand durch die Haare.
»Es ist bald Mitternacht. Die anderen sind schon längst schlafen gegangen. Ich versuche
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