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Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Titel: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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Weltall!«
    »Oder die Wirklichkeit!«
    »Oder einfach die Welt!«
    »Oder das große Rätsel!« rief Cecilie ganz zum Schluß.
    Ariel nickte feierlich.
    »Ein Waisenkind hat viele Namen.«
    »Ein Waisenkind?«
    Wieder nickte er.
    »Nicht die geliebten Kinder haben viele Namen. Sondern die Findelkinder. Die, die auf einer Treppe gefunden werden. Die, bei denen niemand so recht weiß, woher sie kommen. Die, die im leeren Raum schweben.«
    »Das ist die Ewigkeit«, wiederholte Cecilie.
    Der Engel Ariel ließ sich neben ihr auf den Schlitten sinken. Dann sagte er:
    »Und mitten in der Nacht sieht man das am allerdeutlichsten.«
    Cecilie drehte sich zu ihm um und wiederholte etwas, was sie schon einmal gesagt hatte. Diesmal betonte sie dabei jede einzelne Silbe.
    »Ich bin nur dieses eine Mal hier. Und ich komme nie mehr zurück.«
    Aber der Engel Ariel schüttelte den Kopf. Er sagte:
    »Du bist jetzt in der Ewigkeit. Und die kommt in alle Ewigkeit zurück.«
    Sie gingen zum Fluß hinunter und sahen, daß langsam große Eisschollen durch das Tal geschoben wurden. Der Fluß, der den ganzen Winter über so still und friedlich dagelegen hatte, hörte sich plötzlich richtig wütend an. Sie gingen am Ufer entlang zur Brücke und über die Brücke ans andere Ufer.
    Mitten auf der Brücke zeigte Ariel ins Wasser und fragte:
    »Wie heißt der Fluß eigentlich genau?«
    »>Wie heißt der Fluß eigentlich genau?<« wiederholte sie.
    »Das habe ich dir doch schon erzählt. Er heißt Leira.«
    Er nickte.
    »Ein schöner Name. Sehr irdisch, denn Leira bedeutet Lehm. Aber in einem himmlischen Spiegel wird auch das Allerirdischste zu etwas Himmlischem.«
    »Ich kapiere überhaupt nichts mehr.«
    »Leira ...«, wiederholte Ariel.
    Er lächelte geheimnisvoll.
    »Du siehst alles durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort.«
    Sie zuckte mit den Schultern. Ariel fragte:
    »Kannst du >Leira< spiegelverkehrt lesen?«
    Es dauerte einen Moment.
    »A RIEL !« rief Cecilie. »Es heißt Ariel!«
    Er nickte stolz.
    »Ich habe mich in diesem Tal hier schon immer wohlgefühlt.«
    Cecilie war tief beeindruckt.
    Mehrmals auf dem Weg nach Skotbu legte sie den Kopf in den Nacken und spähte ins Universum hinaus.
    Plötzlich entdeckten sie eine Sternschnuppe. Ariel schlug sich die Hand vor den Mund und sagte:
    »Da fällt ein Stern.«
    »>Da fällt ein Stern<«, wiederholte Cecilie.
    Sie mußte wieder an den alten Christbaumstern denken, der plötzlich verschwunden gewesen war. Hatte Ariel nicht behauptet zu wissen, wo er steckte?
    Als sie den Schlitten das letzte Stück zur roten Scheune von Skotbu hochzog, wandte sie sich zu ihm um und fragte:
    »Weißt du noch, wie ich von dem alten Weihnachtsstern erzählt habe, der plötzlich auf unerklärliche Weise verschwunden war?«
    Ariel machte ein unergründliches Gesicht.
    »Es ist nicht sicher, ob es wirklich so unerklärlich ist.«
    »Genau!« sagte Cecilie. »Du weißt es nämlich, wo er steckt.«
    Sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Wieso fand Ariel das nicht so unerklärlich? Wenn er die ganze Zeit gewußt hatte, wo der Stern war, warum hatte er ihr das nicht schon längst erzählt?
    Sie hatten jetzt den Hof erreicht.
    »Komm her«, sagte der Engel Ariel und zeigte hinter die Scheune.
    An der Scheunenwand ragten Zweige eines verwelkten Baums empor. East alle Nadeln waren abgefallen. Die wenigen, die noch übrig waren, hatten sich hellbraun verfärbt. Es war deutlich, daß der Baum den ganzen Winter über vom Schnee bedeckt gewesen war. Jetzt hatte die Schneeschmelze eingesetzt, und der Baum war wieder zum Vorschein gekommen.
    »Das ist ja der Weihnachtsbaum vom letzten Jahr!« rief Cecilie.
    Ihr fiel ein, daß sie ihn vor etwas mehr als einem Jahr zusammen mit ihrem Vater dort abgelegt hatte.
    Ariel befreite den ganzen Weihnachtsbaum, vom Schnee. Jetzt sah Cecilie den alten Weihnachtsstern. Er steckte immer noch oben am Baum. Daß sie nicht auf die Idee gekommen war! Daß niemand daran gedacht hatte, daß sie einfach vergessen hatten, den Stern bei der Baumplünderung von der Spitze zu nehmen!
    Der verwelkte Baum sah traurig und trostlos aus. Er erinnerte Cecilie an den schwarzen Lavastrand auf der Insel Santorini. Nur der Stern war unverändert. Dem hatte der Winter nichts antun können. Er war ganz unversehrt.
    Der Engel Ariel bückte sich und tippte den Stern mit einem Finger an. Er leuchtete auf wie elektrisiert.
    Cecilie war hingerissen.
    »Wie schön!«
    Als Ariel den Finger zurückzog,

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