Durch Himmel und Hoelle
solchen Gelegenheiten vor die erdrückenden Mau- ern von Graystone Manor, durch die Bäume, hinunter zu dem plät-
schernden kleinen Bach mit dem klaren, sauberen Wasser. Sie legte sich hin und genoß die faulen Sommertage unter den Bäumen und beobachtete durch das Laub der Äste den Himmel, auf dem manch- mal weiße Wolken einherzogen. Aber auch an kalten Wintertagen freute sie sich über ihre kleine Flucht in die Freiheit, vergaß die Um- stände, die sie auf Gedeih und Verderb Tante Agatha ausgeliefert hatten und erinnerte sich an die lächelnden Gesichter, die jetzt nur noch geisterhafte Silhouetten waren.
Sie mußte Vergleiche anstellen zwischen dem schweigend und finster dastehenden Graystone Manor und dem kleineren Haus ih- rer Eltern, voller Lachen, Fröhlichkeit und Liebe. Ihre Eltern waren so liebevoll, so voller Leben gewesen - Charles Demarice, hochge- wachsen und schlank wie ein Mann von zwanzig, mit Silberfäden in seinem einstmals rabenschwarzen Haar; seine seltsam grünen Au- gen immer noch funkelnd, trotz seiner fünfzig Jahre - die süße Erin- nerung an die anmutige Figur ihrer Mutter, gekrönt von ihrem wunderbaren rotgoldenen Haar, das in der Sonne glänzte, ihre strahlendblauen Augen.
Wenn sie nur noch bei ihr wären, dachte Elysia verzweifelt, aber sie hatten sie verlassen — so wie Ian.
Elysia blickte durch das Fenster des Salons, sie hörte nicht, was Agatha sagte, und fragte sich, wie sie die letzten zwei Jahre überlebt - nein, unter Agathas Dach dahinvegetiert hatte. Warum ihr Agatha so feindlich gesinnt war, war ihr immer noch ein Rätsel. Sie spürte, daß Tante Agatha sie schon gehaßt hatte, bevor sie ihr je begegnet war, also konnte es nichts sein, was sie getan hatte. Die einzige plau- sible Erklärung war, daß irgend etwas passiert sein mußte, was Agatha gegen ihre Familie aufgebracht hatte, damals, als ihre Mutter noch in Graystone Manor gewohnt hatte. Die Zurückhaltung ihrer Mutter, etwas über das damalige Leben zu erzählen, und auch das Schweigen ihres Vaters, überzeugte Elysia davon, daß etwas Uner- freuliches geschehen war, aber was, würde sie wohl nie erfahren.
Elysias wandernde Gedanken kamen in die Gegenwart zurück - der kalte Salon und Agathas harte, schrille Stimme, so kalt wie der Zug, der durch die Fensterritzen fegte.
»... und da war ich natürlich überrascht, als ich heute nachmittag Squire Masters auf dem Weg ins Dorf traf, und darüber, was er mir da erzählt hat«, sagte ihre Tante gerade.
Squire Masters. Der Name genügte, um Elysia erschaudern zu lassen. Sie hatte noch nie einen abstoßenderen Menschen kennenge- lernt als den Squire, und sie hoffte sehr, ihn niemals wiederzusehen. Sie war dem nicht mehr ganz jungen Witwer mit seinen drei Töch- tern das erste Mal vor zwei Wochen vorgestellt worden, als sie zum Essen in Graystone Manor eingeladen waren.
Es war ein Schock für sie gewesen, als Agatha ihr mitgeteilt hatte, daß am Abend Gäste zum Dinner kommen würden und sie, Elysia, an der Gesellschaft teilhaben sollte.
Elysia aß meistens allein in einer Küchenecke oder, was ihr lieber war, von einem Tablett in ihrem Zimmer, wo sie wenigstens nicht von den Dienstboten angestarrt wurde. Nicht, daß die Mahlzeiten so einladend waren, daß man sich auf sie gefreut hätte. Was aufge- tischt wurde, stillte nur den Hunger. Agatha hatte ihr eines Abends einen Vortrag gehalten, als sie ein paar Minuten zu spät gekommen war, und sie gewarnt, daß, wenn sie weiterhin zu spät zum Essen käme, sie darauf gefaßt sein könnte, nichts mehr zu bekommen. Elysia sah davon ab, ihrer Tante zu sagen, daß eine versäumte Mahl- zeit nicht schwer zu verkraften war, wenn sie an das unappetitliche und schlecht zubereitete Essen und an die kleine Portion dachte, die man ihr zuteilte: die dünne Scheibe schlechtes dunkles Brot - wei- ßes Mehl war für die Dienstboten zu teuer - und das verkochte Gemüse, mit hin und wieder einem Stück Fleisch oder Fisch.
Zum Frühstück gab's noch weniger - Tee und geschmacklose Grütze, meistens klumpig und kalt. Brot und Käse bildeten die Mit- tagsration. Aber im Sommer, wenn im Obstgarten die Früchte reif-
ten, pflückte sich Elysia heimlich welche und versteckte sie in ihrem Zimmer. Wenn sie dann in der Nacht der Hunger aufweckte, ver- schlang sie das köstliche gestohlene Obst.
Agatha schien ungewöhnlich aufgeregt über den Besuch von Ma- sters, befahl der Köchin eine Auswahl von Vorspeisen und Gebäck zuzubereiten.
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