Durch Mark und Bein: 4. Fall mit Tempe Brennan
bewegen. Ich konnte nichts sehen. Dann berührte etwas meine Wange.
Als ich die Augen öffnete, war die Wirklichkeit teuflischer als jeder Albtraum.
Mein Mund war verstopft und mit Klebeband umwickelt. Ich hatte eine Binde vor den Augen.
Es zog mir das Herz zusammen.
Ich kann nicht atmen!
Ich versuchte, eine Hand zum Gesicht zu heben. Meine Handgelenke waren vor der Brust gefesselt.
Der Lumpen füllte meinen Mund mit einem beißenden Geschmack. Meine Zungenwurzel begann zu zittern.
Ich muss brechen. Ich werde ersticken.
Panik stieg in mir auf, ich fing an zu zittern.
Beweg dich!
Ich versuchte, mich zu bewegen, und ein Kokon aus Gewebe bewegte sich mit mir. Ich roch Staub und Moder und faulige Vegetation.
Ich trat aus, warf den Kopf hin und her.
Die Bewegung schoss Pfeile durch meinen Schädel. Ich lag bewegungslos da und wartete, bis der Schmerz nachließ.
Atme durch die Nase. Ein. Aus. Ein. Aus.
Das Pochen ließ etwas nach.
Ich steckte in einer Art Sack. Hände und Füße waren gefesselt. Aber wo war ich? Wie war ich hierher gekommen?
Unzusammenhängende Erinnerungsfetzen. Das Leichenschauhaus. Die einsame Landstraße. Rubys sorgenvolles Gesicht. Primrose Hobbs.
Boyd!
O Gott. Nicht Boyd. Hatte ich auch den Hund auf meinem Gewissen?
Ein. Aus.
Ich drehte den Kopf und spürte eine Beule von der Größe einer Pflaume. Wieder stieg Übelkeit hoch.
Ein. Aus.
Weitere Synapsen.
Der Überfall. Die gesichtslose Gestalt.
Simon Midkiff? Frank Battle? Konnte mein Häscher der Armleuchter von Amtsrichter sein?
Ich verdrehte die Handgelenke, versuchte, das Band zu lockern. Wieder Übelkeit.
Ich biss die Zähne zusammen und drehte mich auf die Seite. Wenn ich brechen musste, dann wollte ich das Erbrochene nicht einatmen.
Bei der Bewegung hob sich mir der Magen. Ich füllte die Lunge mit Luft, und die Kontraktionen ließen nach.
Ich lag starr da und lauschte. Keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos gewesen war und wie ich zu meinem augenblicklichen Aufenthaltsort gekommen war. War ich noch immer im Wald hinter High Ridge House? Hatte man mich woanders hingebracht? War mein Angreifer ganz in der Nähe?
Mein Herzschlag beruhigte sich um eine Nanosekunde, und schlüssiges Denken kehrte langsam in mein Hirn zurück.
In diesem Augenblick kroch das Ding über meine Wange. Ich hörte trockene Insektengeräusche, spürte Bewegung in meinen Haaren und dann das Kitzeln von Fühlern auf der Haut.
Ein Schrei stieg mir in die Kehle. Ich drehte mich hin und her, fuhr mir über Gesicht und Haare. Betäubender Schmerz durchzuckte mein Hirn, wieder kam es mir fast hoch.
Ruhig!, befahl eine funktionierende Hirnzelle.
Kakerlaken!, kreischten die anderen.
Ich zerrte an meiner Jacke, versuchte, sie mir über den Kopf zu ziehen. Es ging nicht.
Lieg still!
Mein Herz hämmerte den Befehl gegen die Rippen.
Ruhig. Ruhig. Ruhig.
Langsam beruhigte ich mich, und die Vernunft kehrte zurück.
Befrei dich.
Lauf davon.
Aber nicht in die nächste Falle.
Denke.
Horche.
Das Pfeifen von Wind in kahlen Zweigen. Ein Zwitschern. Blätter, die über den Boden rascheln.
Waldgeräusche.
Ich schälte eine Geräuschschicht ab.
Wasser, das um Felsen gurgelt.
Flussgeräusche.
Die nächste Schicht.
Weit weg und kaum hörbar, ein irres Heulen, gefolgt von einem merkwürdigen Kichern.
Gänsehaut überzog Arme und Hals.
Ich wusste, wo ich war.
32
Kaum atmend lag ich da und lauschte angestrengt. Hatte ich wirklich gehört, was ich zu hören geglaubt hatte? Zuerst zweifelte ich daran. Dann erklang es wieder, schwach und unwirklich.
Ein an- und abschwellendes Stöhnen, ein schrilles Lachen.
Das elektrische Skelett.
Ich war nicht weit weg vom Riverbank Inn. Wo Primrose übernachtet hatte. Wo man sie nie wieder gesehen hatte.
Ich sah Primroses aufgedunsenes Gesicht vor mir, die Löcher, die Wassertiere gefressen hatten.
Ich lag gefesselt, geknebelt und mit verbundenen Augen in einem Sack neben dem Tuckasegee River!
Ich musste mich befreien!
Mein Schädel pochte, sicher eine Folge des Kontakts mit dem Stein. Der Lumpen nahm mir die Luft und schmeckte nach Abfall und Dreck. Das Isolierband brannte an Wangen und Lippen und jagte Lichtsplitter in meinen Sehnerv.
Und ich hörte das Rascheln von Kakerlaken auf meiner Nylonjacke, spürte ihre Bewegungen in den Haaren und auf den Jeans.
Meine Gedanken flogen in tausend Richtungen.
Wieder horchte ich. Da ich keine Anzeichen für die Nähe eines Menschen hörte, begann ich, stetig
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