Durch Mark und Bein: 4. Fall mit Tempe Brennan
entspannten sich wieder.
Ich streckte die Hand aus, um seine zu fassen, und wir beide starrten meinen blutigen Handschuh an.
»Halt, Quincy, keine mitfühlenden Gesten.«
Die Bemerkung löste die Spannung.
»Ich hatte Angst, dass du das Skalpell einsteckst«, sagte ich und griff nach dem Instrument.
»Tyrell sagt, du sollst für heute Schluss machen.«
»Aber ich –«
»Es ist acht Uhr. Du bist seit dreizehn Stunden hier.«
Ich schaute auf die Uhr.
»Wir sehen uns in unserem Tempel der Liebe, und dann berichte ich dir vom Stand der Ermittlungen.«
Mein Rücken und mein Nacken schmerzten, und meine Lider fühlten sich an wie mit Sand bestreut. Ich stemmte die Hände in die Taille und bog den Rücken durch.
»Ich könnte dir natürlich auch helfen –«, als ich mich wieder aufrichtete, trafen sich unsere Blicke, und Ryan hob die Augenbrauen, »– dich zu entspannen.«
»Ich schlafe ja schon im Stehen ein.«
»Du musst etwas essen.«
»Mein Gott, Ryan, was soll denn diese Sorge um meine Ernährung? Du bist schlimmer als meine Mutter.«
In diesem Augenblick entdeckte ich Larke Tyrell, der mir zuwinkte. Er deutete auf seine Uhr und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle. Ich nickte und zeigte ihm den hochgereckten Daumen.
Dann sagte ich Ryan, dass ich sein Angebot des Berichts annehmen würde, aber nur dieses, verstaute die Überreste wieder in ihrem Sack, schrieb meine Erkenntnisse in das Katastrophenopfer-Paket und brachte alles zurück. Ich zog den Overall aus, wusch mich und verließ die Halle.
Vierzig Minuten später saßen Ryan und ich bei Hackbraten-Sandwiches in der Küche des High Ridge House. Er hatte sich gerade zum dritten Mal über das Fehlen von Bier beklagt.
»Die Säufer und die Schlemmer verarmen«, erwiderte ich und schüttelte eine Ketchup-Flasche.
»Wer sagt das?«
»Nach Ruby das Buch der Sprüche.«
»Ich will es für ein Hauptverbrechen erklären, Dünnbier zu trinken.« Es hatte abgekühlt, und Ryan trug einen Skipullover, dessen Kornblumenblau gut zu seinen Augen passte.
»Hat Ruby das gesagt?«
»Shakespeare. Heinrich VI.«.
»Und was willst du damit sagen?«
»Auch Ruby ist autokratisch, wie der König.«
»Erzähl mir von den Ermittlungen.« Ich biss in mein Sandwich.
»Was willst du wissen?«
»Wurden die Black Boxes schon gefunden?«
»Die sind orange. Du hast Ketchup auf dem Kinn.«
»Wurden die Flugdatenschreiber schon gefunden?« Ich wischte mir das Gesicht ab und fragte mich dabei, wie ein Mann gleichzeitig so attraktiv und so lästig sein konnte.
»Ja.«
»Und?«
»Sie wurden ins NTSB-Labor in Washington geschickt, aber ich habe mir eine Kopie der Aufnahme des Cockpit-Stimmrekorders angehört. Die schlimmsten zweiundzwanzig Minuten, die ich je erlebt habe.«
Ich wartete.
»Bei Flughöhen bis zehntausend Fuß sind die Vorschriften der FAA für Cockpit-Unterhaltungen ziemlich streng, und in den ersten acht Minuten sind die Piloten deshalb sehr sachlich. Danach sind sie entspannter, reden mit den Fluglotsen, unterhalten sich über ihre Kinder, ihr Mittagessen, über Golf. Plötzlich gibt es einen Knall, und alles ist anders. Sie atmen schwer und schreien einander an.«
Er schluckte.
»Im Hintergrund hört man zuerst Piepsen, dann Trillern, dann Heulen. Einer aus der Rekorder-Gruppe hat die Geräusche identifiziert, während wir zuhörten. Abschalten des Autopiloten. Zu hohe Geschwindigkeit. Höhenalarm. Anscheinend haben sie es eine Zeit lang geschafft, das Flugzeug zu halten. Man hört das alles und stellt sich vor, wie diese Jungs sich abmühen, um ihr Flugzeug zu retten. Scheiße.«
Er schluckte noch einmal.
»Dann gibt’s dieses grässliche kreischende Geräusch. Bodennäherungswarnung. Dann ein lautes Krachen. Und dann gar nichts mehr.«
Irgendwo im Haus wurde eine Tür zugeschlagen, in einer Leitung lief Wasser.
»Du weißt doch, wie es ist, wenn man Naturfilme anschaut? Man zweifelt nicht daran, dass der Löwe die Gazelle schnappt, man hofft aber trotzdem und fühlt sich dann schrecklich, wenn es passiert. So ähnlich ist das. Man hört, wie diese Leute aus der Normalität in einen Albtraum tauchen, man weiß, dass sie sterben werden, und es gibt nichts, was man tun kann.«
»Was ist mit den Flugdaten-Rekordern?«
»Das dauert Wochen, vielleicht Monate. Wie lange der Stimmrekorder noch funktioniert, sagt etwas über die Zerstörungssequenz aus, da die Rekorder keinen Strom mehr bekommen, wenn Turbinen und Generator ausfallen.
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