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Durch Zeit und Raum

Durch Zeit und Raum

Titel: Durch Zeit und Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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tiefsten Tiefen des Waldes wachsen. Wann nur, wann kommt sie, des Uralten Kind? – Wann nur, wann kommt sie, dem Herzen so teuer? Meine Heimat ist hier, Reschal!«
    »Und du läßt Gwydyr zu seinem Platz zwischen den Sternen ziehen?«
    » Wem sollen wir singen? Sagt, was uns droht. Bringt ihr uns das Leben? Bringt ihr uns den Tod? « sang Madoc leise. » Bringt ihr uns Tränen? Bringt ihr uns Segen? Ich habe meine Tränen um das Vergangene geweint; jetzt will ich gesegnet sein. – Warum hast du meine Tränen geweckt?«
    »Damit du sie von nun an vergessen kannst«, sagte Reschal und reckte seine verwitterten Arme der Sonne entgegen. Der See, das Ufer, der Felsen, der Wald dahinter, alles glänzte in goldenem Licht, und wie zur Antwort auf Reschals Gruß war da ein Singen, ein seltsames, unbändiges Singen: von Frühling und Blumen und Sonne und sprießendem Gras – und vom Herzschlag derer, die jung und verliebt sind. Und Madocs Tränen trockneten, und die Erinnerung an seine verlorenen Gefährten und den toten Bruder verblaßte, weil der Gesang alles übertönte und ihn mit freudvoller Erwartung erfüllte.
    Dann kamen die Kinder des Stammes. Sie trugen lange Blütenkränze um den Hals, und die Blumen baumelten beim Tanz gegen die kleinen, braungebrannten Bäuche. Bei diesem Anblick mußte Madoc lachen, und immer noch lachend wandte er sich an den Uralten. Aber Reschals Augen waren zum unsichtbaren, zum jenseitigen Ufer des Sees gerichtet; und er lauschte nicht auf die lärmenden Kinder, sondern auf den fremden Klang, dem seine Aufmerksamkeit schon zuvor gegolten hatte. Und jetzt meinte auch Madoc ein dumpfes Pochen zu erkennen: als schlüge in weiter Ferne ein Herz.
    »Ich höre es, Uralter. Was ist das?«
    Reschal starrte über das Wasser. »Es ist das Volk vom Anderen Ende des Sees. So tönen ihre Trommeln.«
    Madoc horchte genauer hin. »Diesen Trommelschlag kann man manchmal vernehmen – wenn der Wind aus dem Süden kommt. Aber heute weht der Wind aus dem Norden.«
    Die Stimme des Uralten verriet Unruhe. »Wir haben stets in Frieden gelebt, das Windvolk und jene vom Anderen Ende.«
    »Vielleicht kommen sie zur Feier meiner Vermählung«, gab Madoc zu bedenken.
    »Vielleicht.«
    Die Kinder hatten unterdessen einen Kreis um den Felsen gebildet und reckten erwartungsvoll die Köpfe nach Madoc und Reschal. Der Uralte hob die Arme, und lauter Gesang übertönte das rhythmische Dröhnen der Trommeln. Von überallher tanzten die Männer und Frauen des Stammes, die stürmischen Jünglinge und Mädchen wie die bedächtigen, weißhaarigen Alten auf den Felsen zu. In ihrer Mitte, von einer Gruppe junger Frauen umringt, schritt Zyll. Sie trug eine Blütenkrone im Haar, die jener von Madoc glich, und einen Schurz, der nur aus Frühlingsblumen bestand. Ihre kupferbraune Haut glänzte in der Sonne, und ihre Augen suchten Madocs Blick und strahlten ihm in Liebe entgegen.
    Kein goldstrotzendes Hochzeitsgewand könnte prächtiger sein! dachte Madoc, und sei es auch schwer von Samt und Seide und mit Juwelen bestickt.
    Die blumengeschmückte Menge teilte sich, um Zyll den Weg zum Felsen freizugeben. Sie streckte ihm die Arme entgegen, und Madoc bückte sich, faßte sie und hob sie behutsam an seine Seite, so daß sie nun zwischen ihm und Reschal stand. Zyll neigte vor ihrem Vater das Haupt – und dann begann sie zu tanzen. Im Laufe des Jahres, das Madoc beim Windvolk zugebracht hatte, hatte er Zyll schon oft tanzen gesehen: immer, wenn der neue Mond kam; zum Fest der wiedergeborenen Sonne im Winter; zu Ehren der Götter des Sees und des Himmels, des Regens und des Regenbogens, des Schnees und des Feuers.
    Aber für das Windvolk mit seinen vielfältigen Künsten und Gaben gab es unter allen Tänzen keinen, der diesem einen gleichgekommen wäre: dem Hochzeitstanz.
    Madoc stand wie von Freude gebannt, während Zyll sich mit der wirbelnden Leichtigkeit einer Frühlingsbrise bewegte. Schwerelos hob sie vom Boden ab, schien zwischen dem Himmel und dem Felsen zu schweben; sanft, als löste sich ein Blütenblatt vom Baum, glitt sie wieder zur Erde.
    Dann hielt sie ihm die Hände entgegen, und auch Madoc begann zu tanzen, und beglückt spürte er, wie sich ihr müheloses Gleiten und Drehen auf ihn übertrug.
    Als Zyll Madoc halbtot im Wald fand und ihn zum Windvolk brachte, war es ihm zunächst furchtsam begegnet. Seine blauen Augen, seine blasse, von der Sonne qualvoll gerötete Haut, sein hellblondes Haar waren ihnen unheimlich; nie

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