Durch Zeit und Raum
jedenfalls älter als fünfzehn. Obwohl nichts darauf schließen ließ, daß Charles Wallace in diesem Jüngling steckte, wußte Meg, daß es wohl so sein mußte. So wie Charles Wallace ganz er selbst geblieben war und doch zugleich Harcel werden konnte, war er nun Teil dieses jungen Menschen, war »nach Innen gegangen«.
Er hatte die Nacht auf dem Felsen zugebracht. Manchmal hatte er auf dem Rücken gelegen und die Sterne betrachtet, die langsam über den Himmel schwammen. Dann wieder hatte er mit geschlossenen Augen den Wellen gelauscht, die auf den bleichen Sand züngelten, dem Schnarren der Frösche, dem Ruf eines Nachtvogels, dem gelegentlichen Flossenschlag eines Fisches. Und zwischendurch hatte er nichts gesehen und nichts gehört und doch nicht geschlafen; er hatte seine Sinne treiben lassen, hingestreckt auf den Felsen, und sich geduldig dem Wind geöffnet.
Daß Charles Wallace sich so oft mit Meg im Kythen geübt hatte, kam ihm jetzt zustatten: tiefer und tiefer drang er in das Wesen eines Anderen ein, wurde ein Anderer:
Madoc, Sohn des Owain, des Königs von Gwynedd.
Madoc am Morgen seiner Hochzeit.
Meg fielen langsam die Augen zu. Ihr Körper entspannte sich unter der warmen Daunendecke, aber noch im Einschlafen blieb ihre Hand auf Anandas Fell.
Madoc!
Plötzlich tat sich vor Charles Wallace ein blindes Fenster auf. Der Name erinnerte ihn nicht an eine Ballade oder ein Lied, wie er bisher gedacht hatte, sondern an einen walisischen Prinzen! Madoc!
Gaudior wieherte leise, mahnend: »Du bist in Madoc. Verwirre ihn nicht mit fremden Gedanken!«
»Gaudior! Madoc war der Held dieses Buches! Er hat – er hat… Ach, warum fällt es mir nicht ein?«
Wieder hielt Gaudior ihn zurück. »Hör auf, darüber nachzudenken! Deine Aufgabe ist es jetzt, dich ganz in Madoc zu versenken.«
Laß dich gehen.
Als ob man in einen Teich glitte, tiefer und immer tiefer ins Wasser, tiefer und immer tiefer… Laß dich gehen. Geh in Madoc auf.
Laß dich gehen.
Madoc stand vom Felsen auf. Das Gesicht nach Osten gewandt, erwartete er mit wachen Sinnen den Sonnenaufgang.
Seine helle Haut war nicht gebräunt, sondern gerötet; ein Zeichen, daß sie die fremde, pralle Sonne schlecht vertrug.
Er ließ den Blick über den Horizont schweifen, wo ein violetter Streifen den See vom Himmel trennte. Madocs Augen: so blau, daß der Himmel vor ihnen verblaßte. Sein Haar, blond und dicht wie eine Löwenmähne, war mit einer kompliziert geflochtenen Krone aus Frühlingsblumen bedeckt, die in einem langen, über Hals und Schulter reichenden Blütenstrang endete. Dazu trug er einen Lendenschurz aus Farnen.
Am Himmel wurde es hell. Die Sonne tastete mit feurigen Strahlen über das Ufer des Sees, griff hinauf in die Wolken, zog sich an ihnen hoch. Und als die Sonne den großen Sprung aus der Finsternis wagte, begann Madoc zu singen, laut und froh:
*
» Ihr Götter von Feuer und Wasser und Erde,
so sagt mir doch, wann ich sie sehen werde!
Ihr Götter von Schnee und Regen und Wind,
wann nur, wann kommt sie, des Uralten Kind?
In kommenden Zeiten, in Zeiten verloren?
Hat sie ein Freund, hat ein Feind sie geboren?
*
Ihr Götter von Erde und Wasser und Feuer,
wann nur, wann kommt sie, dem Herzen so teuer?
Ihr Götter von Regen, von Wind und von Schnee,
seh ich sie wieder, sah ich sie je?
Gefunden, verloren, verloren, gefunden,
Ihr Leben wie meines aus Schmerzen entbunden .«
*
Immer noch starrte er über das Wasser. Als sein Lied verstummt war, erklang es plötzlich wieder: ein Echo, ein seltsames, schwaches, brüchiges Echo – und aus dem Wald trat ein alter Mann, wie Madoc in prächtigen Blumenschmuck gekleidet.
Madoc bückte sich und half ihm auf den Felsen. Ja, er war alt, uralt, doch seine Muskeln waren immer noch hart und drahtig, und das schlohweiße Haar umrahmte ein verwittertes Gesicht von gesunder Bräune.
*
» Ihr Götter von Erde und Feuer und Wasser,
bringt ihr den Liebenden, bringt ihr den Hasser!
Ihr Götter von Wind und von Schnee und von Regen,
bringt ihr uns Tränen, bringt ihr uns Segen!
Wem sollen wir singen! Sagt, was uns droht!
Bringt ihr uns das Leben! Bringt ihr uns den Tod! «
*
Der seltsame Zwiegesang war beendet. Der Uralte hob die Hand zum Gruß. »Der Tag ist gekommen, mein Sohn aus fernem Land!«
»Der Tag ist gekommen, der dich zu meinem Vater machen wird. Und mich, Madoc, Sohn des Owain, des Königs von Gwynedd, zu Madoc, Sohn des Reschal, des Uralten vom Windvolk.«
»Auf den
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