Durch Zeit und Raum
Tag ein Jahr ist vergangen, da hast du das Lied im Fiebertraum gesungen«, sagte Reschal. »Und es war meine Jüngste, die dich im Wald fand.«
»Damals sang ich von Tränen und Tod«, bekräftigte Madoc. »Heute singen wir vom Segen des Lebens, und wir werden von neuem geboren und eins werden, Zyll und ich, wenn du uns zusammenführst.«
»In jener Nacht, in der Zyll zur Welt kam«, sagte der Uralte, »hatte ich einen seltsamen Traum: Ein Fremder kam aus fremdem Land, von fernher, über ein Wasser, das größer und weiter ist als unser See…«
»Über das Meer.« Der Jüngling legte dem Uralten die Hand auf die Schulter. »Über das Meer, das an die Küsten von Cymru peitscht. Über das Meer, von dem wir dachten, es reiche bis dorthin, wo die Schiffe aus den Wassern fallen, bis ans Ende der Welt.«
»Das Ende der Welt…« begann der Uralte, unterbrach sich aber und lauschte.
Auch der Jüngling spitzte die Ohren, hörte aber nichts. »Ist es der Wind?«
»Nein, es ist nicht der Wind.« Reschal blickte dem Jungen ernst in die Augen und faßte ihn mit seiner dürren Hand am Arm, fühlte die kräftigen Muskeln unter seinen knorrigen Fingern. »Madoc, Sohn des Owain, des Königs von Gwynedd – wie ungewohnt das unseren Ohren klang. Wir wußten nicht, was ein König ist; und wissen es nach wie vor nicht wirklich.«
»Weil ihr keinen König braucht, Reschal, Uralter des Windvolks. Owain, mein Vater, ist längst gestorben und begraben, und eine Lebensreise liegt zwischen mir und Gwynedd in Cymru. Als der Wahrsager aus der Kristallkugel las, sah er nicht nur den Tod meines Vaters voraus; er sah auch, daß ich meine Tage fern von Gwynedd verbringen würde.«
Wieder hob der Uralte den Kopf und lauschte.
»Ist es der Wind?« Noch immer hörte Madoc nichts weiter als die Geräusche des frühen Morgens: Die Wellen plätscherten an das Ufer des Sees; der Wind fing sich in den Zweigen der Tannen und ließ sie leise rauschen – ein Klang, der ihn an das Rauschen des Meeres erinnerte, über das er gekommen war.
»Nein, es ist nicht der Wind.« Das Gesicht des Uralten zeigte keine Gefühlsregung, nur ruhige, gefaßte Wachsamkeit.
Der Jüngling hingegen konnte seine Ungeduld nicht zügeln; allein der Klang seiner Stimme verriet ihn: »Wann kommt Zyll endlich?«
Der Uralte lächelte, nicht ohne Wohlwollen. »Wieviele Jahre wartest du schon?«
»Ich bin siebzehn.«
»Dann kannst du getrost noch eine kleine Weile länger warten, bis Zylls Mägde sie geschmückt haben. Auch habe ich noch einige Fragen an dich zu richten. Bist du von Herzen gewiß, Zyll und ihr kleines Volk, uns, die wir im Inneren des Landes leben, nie verlassen zu wollen, um auf deinem geflügelten Schiff wieder über das große Wasser zu gehen?«
»Mein Schiff barst in Wind und Wellen, als wir am felsigen Ufer strandeten. Die Segel sind zerrissen und unbrauchbar geworden.«
»Man könnte ein anderes Schiff bauen.«
»Uralter, selbst wenn ich das Werkzeug besäße, um Bäume zu fällen und die Stämme zurechtzuzimmern, selbst wenn mein Bruder und meine Männer nicht umgekommen wären – nie dächte ich daran, Zyll und meine neuen Gefährten zu verlassen.«
»Und dein Bruder? Und deine Männer?«
»Sie sind tot«, erwiderte Madoc traurig.
»Und doch hältst du sie zurück und gestattest ihnen nicht, ihre Reise zu den Sternen zu vollenden.«
»Unsere Heimat ist fern«, sagte Madoc leise. »Ihre Seelen müßten auf eine lange Wanderschaft gehen.«
»Sind denn die Götter von Gwynedd zu schwach, die Ihren sicher heimzugeleiten?«
Madocs blaue Augen verdunkelten sich im Gram. »Als wir aus Gwynedd in Cymru aufbrachen, um dem Streit meiner Brüder um unseres Vaters Thron zu entgehen, hatten sich die Götter bereits von uns abgewendet. Denn wenn der Bruder gewillt ist, den Bruder zu töten, um seine Macht zu mehren, beschwört er den Zorn der Götter herauf.«
»Vielleicht mußt du die Götter von Gwynedd ebenso aufgeben«, sagte der Uralte, »wie deine Gefährten. Du darfst sie nicht länger halten.«
»Ich habe ihren Tod verschuldet. Als unser Vater starb und meine Brüder sich an der Machtlust berauschten, wie kein Wein einen Menschen berauschen könnte, fühlte ich, daß uns die Götter verließen. Ich sah im Traum, wie sie unserem Streit den Rücken kehrten. Ich sah sie so deutlich wie der Wahrsager in seinem Kristall. Als ich erwachte, nahm ich Gwydyr zur Seite und sagte: »Ich will nicht länger teilhaben an diesem Kampf unter Brüdern. Ich
Weitere Kostenlose Bücher