Durch Zeit und Raum
Wir haben eine Mission zu erfüllen und das zu tun, was sich daraus ergibt. Du warst aber so sehr darauf aus, das Geschehen selbst zu bestimmen, daß wir beinahe in die Hände der Echthroi gefallen wären.«
Charles Wallace schwieg.
»Wahrscheinlich war es nicht allein deine Schuld«, räumte Gaudior widerwillig ein. »Jedenfalls sollten wir darauf verzichten, das Wann und Wo beeinflussen zu wollen, und hingehen, wohin man uns schickt. Und trotz aller Widerstände der Echthroi darfst du nicht so bleiben, wie du bist, sondern mußt wieder nach Innen gehen.«
»Und bei wem?«
Gaudior blähte die Nüstern. »Da muß ich erst den Wind fragen.« Und er hob das Haupt und sperrte das Maul auf. Charles Wallace wartete gespannt. Endlich wandte sich das Einhorn wieder ihm zu und breitete einen Flügel zu voller Länge aus. »Komm ganz nahe zu mir!« befahl Gaudior.
Charles Wallace schlüpfte unter die schützende Flügeldecke und preßte sich eng an die Flanke des Einhorns. »Hat dir der Wind verraten, in welchem Wann wir sind?«
»Du forderst zuviel!« schalt Gaudior, faltete den Flügel wieder ein, und Charles Wallace war darin gefangen. Er rang nach Atem und versuchte sich zu befreien, aber die kräftige Schwinge hielt ihn fest. Schließlich gab er seinen Widerstand auf…
Als er die Augen wieder öffnete, war der Tag vergangen, und die Bäume und der Felsen schwammen im Licht des Mondes.
Er war nach Innen gegangen. Er lag auf dem Felsen. Er schaute hinauf in den mondklaren Himmel. Nur die hellsten Sterne konnten in diesem Silberlicht bestehen. Ringsum summte der Sommer sein Nachtlied. Eine Taube klagte in ihrem Versteck in den tiefsten Schatten. Ein alternder Frosch probte noch einmal ein herzhaftes Quaken.
Als der trillernde Lockruf ertönte, setzte er sich auf und rief: »Zylle!«
Eine junge Frau trat aus dem Waldschatten. Sie war groß und schlank – abgesehen von ihrem dicken Bauch, in dem ein Kind heranwuchs. »Ich danke dir, daß du gekommen bist, Brandon.«
Charles Wallace, in Brandon Llawcae, umarmte sie herzlich. »Bei dir zu weilen, ist immer eine Freude, Zylle.«
Wieder, wie in Harcel, war er jünger als fünfzehn, vielleicht elf oder zwölf, ein Kind noch, ein wachsames, intelligentes und liebenswertes Kind.
Sie lächelte ihm zu. »Die Kräuter, die meine Pein bei der Geburt des Kindes lindern sollen, findet man nur bei Vollmond; und nur an dieser Stelle. Ritchie befürchtet, daß die Gute Adams mir zürnen könnte, wenn sie davon erfährt.«
Die Gute , als Kurzform für Gutweib . Das war der Begriff, den die Pilgerväter statt Mistress für Hausfrauen, Hausgehilfinnen und Hebammen gleichermaßen gebraucht hatten. Dieses Wann hier war also keinesfalls 1865 , sondern wahrscheinlich ein Jahrhundert zuvor; eher noch zwei Jahrhunderte. Brandon Llawcae mußte der Sohn früher Ansiedler sein.
»Laß dich gehen!« mahnte Gaudior. »Laß dich in Brandon fallen.«
»Aber warum sind wir hier?« murrte Charles Wallace. »Was können wir hier schon erfahren?«
»Hör auf, Fragen zu stellen!«
»Wir dürfen keine Zeit verlieren…« drängte Charles Wallace.
Gaudior schnaufte verärgert. »Du bist hier, und du bist in Brandon. Laß dich gehen.«
Laß dich gehen.
Sei Brandon.
Voll und ganz.
»Also wird es am trefflichsten sein«, fuhr Zylle fort, »wenn Ritchie gar nicht erst davon erfährt. Dir kann ich ja immer vertrauen, Brandon. Du weißt deine Zunge zu hüten und verrätst und verdirbst nicht jegliches allsogleich.«
Brandon klemmte schüchtern den Kopf zwischen die Schultern, aber schon blickte er voll Stolz und Freude Zylle in die Augen, die aus ihrem dunkelhäutigen Gesicht mit betörender Bläue strahlten.
»Ich habe vom Windvolk gelernt, daß es nicht von Übel ist, ein Geheimnis im Herzen zu bewahren.«
Zylle seufzte. »Nein, es ist wahrhaft nicht von Übel. Aber es schmerzt mich, daß du und ich unsere Gaben nicht mit jenen teilen dürfen, die wir lieben.«
»Meine Bilder.« Brandon nickte. »Meine Eltern halten mich an, den Truggesichten zu entsagen.«
»Bei meinem Volk hättest du als Seher gegolten«, erwiderte Zylle. »Und du wärest in Vertrauen und Gebet unterwiesen worden, deine Gabe den Göttern zu weihen, denen du sie verdankst. Mein Vater hoffte so sehr, daß Maddok diese Kunst verliehen sei, denn selten nur gesellt sich bei Lebzeiten des einen ein zweiter mit blauen Augen hinzu. Aber es ist die Gabe meines kleinen Bruders, das Wetter zu erkennen und zu wissen, wann es Zeit
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