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Durch Zeit und Raum

Durch Zeit und Raum

Titel: Durch Zeit und Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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Wallace den Atem. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest krallte Charles sich in die Mähne des Einhorns, und die wieder schien sich in Stahlseile zu verwandeln, um dem Jungen besseren Halt zu bieten. Charles litt unter dem beängstigenden Gefühl, daß Gaudior gegen eine Finsternis ankämpfen mußte, gegen ein anderes Einhorn, gegen den Flügelschlag negativer Schwingen und das Stampfen eiserner Hufe. Die silberne Mähne entglitt seinen Händen, und zugleich überwältigte ihn der entsetzliche Gestank der Echthroi. Schwarze Flügel hämmerten auf ihn ein, rissen ihn vom Rücken des Einhorns, und die brennende Kälte des Weltraums fraß sich in seine Glieder. Das war schlimmer als jede Projektion. Seine Lungen drohten vor Atemnot zu bersten. Er war nur noch ein ausgelaugter Körper und würde in alle Ewigkeit als willenloser Satellit um die nächste Sonne kreisen müssen…
    Ein kräftiger Ruck, und Luft strömte in seine gequälten Lungen. Charles verspürte ein heftiges Zerren am Hals, und der blaue Anorak schnitt ihm in die Kehle. Aber der betäubende Gestank war wie weggeblasen, und statt dessen tauchte Charles Wallace tief in den Duft von Einhornatem, Sternen und Frost: Gaudior trug ihn in seinem Maul; die mächtigen Elfenbeinzähne hatten Charles Wallace am Kragen des Anoraks gepackt.
    Gaudiors schimmernde Schwingen kämpften gegen die Dunkelheit. Charles Wallace hielt den Atem an. Wenn das Einhorn ihn nun fallen ließ, würden die Echthroi warten. Der Anorak spannte schmerzhaft unter den Achseln, aber Charles Wallace wußte, daß er das Gewicht jetzt nicht verlagern durfte. Gaudior keuchte vor Anstrengung zwischen den krampfhaft zusammengebissenen Zähnen.
    Und dann berührten die silbernen Hufe wieder festen Boden – und sie waren sicher auf dem Sterngucker-Felsen gelandet. Gaudior öffnete das Maul und ließ den Jungen fallen. Charles Wallace war so geschwächt, daß er hilflos auf dem Boden zusammensackte. Endlich kam er, immer noch zitternd, auf die Beine, froh, der drohenden Katastrophe im letzten Augenblick entkommen zu sein. Er streckte die Arme aus, um die schmerzenden Achseln und Schultern zu entlasten. Gaudior keuchte und stöhnte; seine Flanken bebten.
    Die sanfte Brise tat ihren Lungen gut. Gaudior schürzte die Lippen und trank in hastigen Schlucken die klare, reine Luft. Dann senkte er das Haupt, stupste Charles Wallace zärtlich mit den Nüstern und zeigte ihm so zum ersten Mal seine aufrichtige Zuneigung. »Ich war nicht mehr sicher, ob uns die Flucht gelingen würde. Die Echthroi sind hellauf wütend, weil es dem Wind gelang, dich in Madoc zu führen, und sie wollen unter allen Umständen verhindern, daß du noch einmal in das Innere eines Menschen gehst.«
    Charles Wallace streichelte ihm sanft über die Schnauze. »Du hast mich gerettet. Hättest du mich nicht am Anorak gepackt, müßte ich für alle Zeiten im All kreisen.«
    »Unsere Chance stand eins zu einer Million«, räumte Gaudior ein. »Aber der Wind hat uns geholfen.«
    Charles Wallace reckte sich auf die Zehenspitzen und schlang seine Arme um den Hals des Einhorns. »Auch trotz seiner Hilfe war es alles andere als leicht. Ich danke dir.«
    Gaudior machte eine abwehrende Bewegung, ein Schulterzucken nach Art der Einhörner. Sein geringelter Ziegenbart zitterte. »Unsereins ist nicht dafür eingerichtet, Dank auf diese Weise entgegenzunehmen. Bitte verzichte darauf.«
    Es war ein heißer Hochsommertag; am Horizont standen schwere Gewitterwolken. Der See war verschwunden, und das Tal erstreckte sich bis zu den Bergen und bot den gewohnten Anblick. Der Wald bestand aus hohen Ulmen, weit ausladenden Eichen und schlanken Tannen. In der Ferne drängten sich einige Behausungen aneinander, offenbar Blockhütten.
    »Hier sieht es nicht gerade nach 1865 aus«, sagte Charles Wallace.
    »Das mußt du besser wissen«, erwiderte Gaudior. »Ich hatte kaum Gelegenheit, mich mit der Geschichte der Erde vertraut zu machen; der Auftrag kam für mich ja völlig überraschend.«
    »Wir müssen aber herausfinden, in welchem Wann wir sind.«
    »Warum?«
    Charles Wallace bemühte sich, seine Ungeduld zu zügeln, die ihn nun, nach dem Angriff der Echthroi, nur um so drängender beherrschte. »Wenn wir ein ganz bestimmtes Soll-Sein entdecken wollen, müssen wir doch zumindest wissen, in welchem Wann das ist.«
    Gaudior verriet seine eigene Ungeduld, indem er heftig mit den Hufen scharrte, sagte aber: »Warum? Wir müssen doch nicht alles wissen.

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