Durch Zeit und Raum
Überzeugung. »Wäre sie schon ehedem hier gewesen, hätten die Kleinen überlebt, die deine Mutter in den Jahren gebar, die dich von Ritchie trennen. Dennoch fände die Gute wenig Gefallen an dem, was ich soeben tat.«
»Weißt du, wann dein Kind zur Welt kommen wird, Zylle?«
»Morgen.« Sie erhob sich. »Es wird Zeit, heimzukehren. Ich möchte nicht, daß Ritchie erwacht, ohne mich an seiner Seite zu finden.«
Brandon griff nach ihrer zarten Hand mit den schlanken, kühlen Fingern. »Wie gut, daß Ritchie dich zur Frau nahm!«
Sie lächelte ein wenig gequält, bemüht, nicht den Schatten der Sorge zu zeigen, sagte aber leichthin: »Die Siedler bedenken das Indianerweib in ihrer Mitte immer noch mit Argwohn, um so mehr, da diese eine blaue Augen hat.«
»Wenn sie doch nur auf die walisische Legende hörten – und auf das, was du ihnen dazu zu erzählen wüßtest!»
Zylle preßte die Finger aneinander. »Ritchie gebot mir, niemals die Sage vom Weißen Mann zu erwähnen, der zu uns kam, als dieser Kontinent ausschließlich von Indianern bewohnt war.«
»Das muß vor langer Zeit gewesen sein.«
»Vor langer, langer Zeit. Er kam über das große Wasser, aus einem Reich am anderen Ende der Welt. Und er war ein tapferer, ein wackerer Mann, den es weder nach Macht noch nach Land gelüstete. Mein kleiner Bruder Maddok ist nach ihm benannt.«
»Und das Lied?« fragte Brandon.
»Es ist ein uralter Gesang; unser Gebet um das Neugeborene mit den blauen Augen, in dem die Stärke des blauäugigen Prinzen im Windvolk fortlebt. Die Worte mögen sich im Laufe der Jahre gewandelt haben; ich selbst habe sie verändert, denn ich wählte meine Bleibe beim Volk der Weißen wie der Goldene Prinz die seine beim Windvolk. Aus reiner Liebe zu der Prinzessin jenes ihm so fremden Landes war er geblieben und übernahm ihre Sitten und Gebräuche. Aus reiner Liebe verließ auch ich mein Volk, um an Ritchies Seite zu treten. Wie hätte ich denn ohne diese wahrhafte Liebe mein eigentliches Zuhause verlassen können? Und doch singe ich die alten Gebete, denn sie sind in meinem Blut. Und doch frage ich mich, ob es meinem Sohn gewährt sein wird, den indianischen Anteil in seinem Wesen zu wahren.«
»Deinem Sohn?«
»Ich werde einem Knaben das Leben schenken.«
»Woher willst du das wissen?«
»Die Bäume verraten es mir in der Weise, wie sie des Nachts die Blätter wenden. Ich hätte mir eine Tochter gewünscht, aber Ritchie wird erfreut sein, einen Sohn zu besitzen.«
Der Pfad führte sie durch das Gras zu einem Bach, in dem sich zwischen den tanzenden Schatten der Baumkronen der Mond spiegelte. Im Bach lagen große Steine, über die man das andere Ufer erreichen konnte.
Zylle blieb stehen und betrachtete ihr Spiegelbild im Wasser.
Brandon trat hinzu, und nun blickte ihm auch sein eigenes Ebenbild entgegen. Zylle lächelte, und als die kleinen Wellen den Widerschein ihres Lächelns verzerrten, sah Brandon plötzlich, daß sie ein Kind im Arm hielt, ein Neugeborenes mit schwarzen Haaren und hellen, blauen Augen, die wie aus goldenem Grund schimmerten.
Aber schon verdunkelte sich der Blick des Kindes, und seine Augen wurden stumpf und böse, und das Gesicht war das eines Mannes geworden, und Zylles Ebenbild war verschwunden. Der Mann trug eine seltsame Uniform mit vielen Orden, und er reckte stolz und entschlossen das Kinn. Er war in Gedanken versunken, und es waren böse, grausame, rachsüchtige Gedanken. Und dann sah Brandon Feuer, wütend rasendes Feuer…
Ihn schauderte. Er stieß einen erstickten Schrei aus, wandte sich gewaltsam von dem Bild ab, starrte Zylle an, zwang sich, voll Angst, noch einmal aufs Wasser zu schauen – aber das Feuer war verschwunden, und nur ihre beiden Gesichter tanzten verzerrt auf den Wellen.
»Was hast du gesehen?« wollte Zylle wissen.
Den Blick auf die Steine gesenkt, über die sie nun vorsichtig stiegen, berichtete ihr Brandon stockend von seiner Vision, krampfhaft bemüht, sie dabei nicht noch einmal heraufzubeschwören.
Zylle schüttelte besorgt den Kopf. »Ich kann mir das Bild nicht enträtseln. Aber es kündet gewiß nichts Gutes.«
Ohne den Blick zu heben, sagte Brandon: »Ehe man mich anhielt, meine Bilder zu fürchten, waren sie immer schön und bargen keine Schrecknisse.«
Zylle nahm besänftigend seine Hand. »Ich will meinem Vater davon berichten. Er weiß Träume zu deuten.«
Brandon zögerte, dann nickte er. »Wenn du meinst.«
»Und er wird mir Trost geben«, sagte sie
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