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Durch Zeit und Raum

Durch Zeit und Raum

Titel: Durch Zeit und Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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Wasser, das aus Gaudiors Nüstern kam, war rötlich gefärbt.
    Das Einhorn musterte seinerseits den Jungen. »Du siehst schlimm aus!« stellte es nüchtern fest. »In diesem Zustand kannst du kaum in die Haut eines anderen schlüpfen. Du würdest ihn nur verletzen.«
    »Du siehst auch nicht gerade gut aus!« erwiderte Charles Wallace. Er starrte seine Hände an. Die Handflächen waren nicht weniger wund als Gaudiors Bauch. An einigen Stellen hatten sich der Anorak und das Hemd um die Taille hochgeschoben, und dort zeigten sich wie an Gaudiors Flanken blutige Striemen.
    »Außerdem hast du zwei blaue Augen«, ließ ihn das Einhorn wissen. »Ein Wunder, daß du damit überhaupt noch etwas sehen kannst.«
    Charles Wallace blinzelte, erst mit einem Auge, dann mit dem anderen. »Alles ist ein wenig verschwommen«, räumte er ein.
    Gaudior schüttelte die letzten Tropfen aus den Schwingen. »Wir dürfen nicht hier bleiben, und du kannst nicht nach Innen gehen. Soviel steht fürs erste fest.«
    Charles Wallace schaute nach der Sonne, die sich im Westen neigte. »Nach Sonnenuntergang wird es ziemlich kalt werden. Und in dieser Gegend gibt es kein Anzeichen von Leben. Und nichts zu essen.«
    Gaudior legte schützend die Flügel vor die Augen und dachte angestrengt nach. Dann faltete er die Schwingen wieder an die blutigen Flanken. »Ich verstehe mich nicht so recht auf die Erdzeit.«
    »Was hat das mit uns zu tun?«
    »Sehr viel. Die Zeit ist knapp, das wissen wir beide. Und doch wird es Wochen, wenn nicht gar Monate dauern, bis unsere Wunden verheilt sind.«
    Als Charles Wallace merkte, daß ihn das Einhorn anschaute, als erwarte es eine Antwort von ihm, ließ er den Kopf hängen. »Ich weiß uns auch keinen Rat.«
    »Wir zwei sind erschöpft. Der einzige Ort, an den ich dich bringen kann, ohne daß wir die Echthroi fürchten müßten, ist meine Heimat. Kein Sterblicher hat sie je gesehen, und ich bin nicht sicher, ob ich dich dorthin mitnehmen darf. Aber ich wüßte keinen anderen Ausweg.« Das Einhorn warf den Kopf zurück, so daß seine silberne Mähne sanft und kühl das zerschundene Gesicht des Jungen streifte. »So dumm und unerfahren du auch bist, habe ich dich nämlich doch ins Herz geschlossen.«
    »Ich dich auch!« erwiderte Charles Wallace und umarmte ihn zärtlich.
    Mit ächzenden Gelenken kniete Gaudior sich nieder, damit Charles Wallace aufsitzen konnte. Es ließ sich nicht vermeiden, daß der Junge dabei die häßlichen roten Striemen an den Flanken streifte. Er stöhnte vor Mitgefühl. »Es tut mir leid. Ich tue dir nicht absichtlich weh.«
    Gaudior wieherte leise. »Ich weiß.«
    Der Junge war so sehr am Ende seiner Kräfte, daß er den Flug kaum bewußt wahrnahm. Die Zeit und die Sterne wirbelten durch das All, und die Lider wurden ihm schwer…
    »Wach auf!« befahl Gaudior, und Charles Wallace öffnete die Augen und sah in eine von Sternen erhellte Zauberwelt. Auf einmal war sein Blick nicht mehr getrübt, und staunend starrte der Junge auf ein Land aus Schnee und Eis; aber er fror nicht, fühlte nur den sanften Windhauch, der lindernd und heilend über seine Wunden und Schrammen strich. Der Sichelmond hing am violetten Himmel, und darüber strahlte eine andere, kleinere, fast volle Mondscheibe. Berge hoben ihre schneebedeckten Rücken himmelwärts, und an ihrem Fuß, vor einem schmalen Einschnitt, waren seltsame Gebilde aufgetürmt, die großen Eiern glichen.
    Gaudior folgte den Blicken des Jungen. »Unser Brutplatz. Kein Menschenauge hat ihn je gesehen.«
    »Ich wußte nicht, daß Einhörner aus Eiern schlüpfen«, wunderte sich Charles Wallace.
    »Nicht alle«, erwiderte Gaudior leichthin. »Nur jene, die durch die Zeiten reisen.« Er trank in tiefen Zügen das Mondlicht; dann fragte er: »Bist du denn nicht auch durstig?«
    Die Lippen des Jungen waren spröde und rissig. Sein Gaumen war ausgetrocknet. Mit großem Verlangen schaute Charles Wallace in das Mondlicht und machte vorsichtig ganz weit den Mund auf. Kühl und einladend legte es sich auf seine Lippen, aber als er es trinken wollte, verschluckte er sich und mußte husten.
    »Ach, du bist ja ein Mensch!« sagte Gaudior. »Das hätte ich vor Freude, wieder daheim zu sein, beinahe vergessen.« Er trabte zum Fuß eines der Berge und kam wenig später mit einem langen, blaugrünen Eiszapfen wieder zurück, den er behutsam zwischen die Zähne geklemmt hatte. »Den mußt du langsam lutschen. Er schmeckt anfangs vielleicht ein bißchen scharf, aber er

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