Durch Zeit und Raum
immer festeren Stand. Voll aufgerichtet war es etwa so groß wie Charles Wallace. Vorsichtig hob es den einen Huf, dann den anderen, und zuletzt schlug es mit den Hinterbeinen aus. Und während es der Junge selbstvergessen und voll tiefer Freude anstarrte, begann das kleine Einhorn unter den beiden Monden zu tanzen.
Dann bemerkte es Gaudior und stakste dem großen Gefährten entgegen. Hätte es das Horn nur ein wenig gesenkt, hätte es bequem unter Gaudiors Bauch durchlaufen können.
Der kitzelte es zärtlich mit den Nüstern knapp unter dem Horn. Das gefiel dem Kleinen, und es begann von neuem zu hüpfen und springen. Gaudior tanzte mit ihm und verleitete es zu immer komplizierteren Bewegungen. Als das Kleine allmählich zu ermüden begann, verlangsamte auch Gaudior seine Schritte und blieb zuletzt unbeweglich stehen. Er legte das Haupt in den Nacken, blickte zum Sichelmond auf, riß betont weit das Maul auf, entblößte die Zähne und begann in großen Schlucken das Mondlicht zu trinken.
So wie es die Tanzschritte nachgeahmt hatte, folgte das kleine Einhorn auch jetzt eifrig seinem Beispiel. Weil es noch völlig unerfahren war, rannen ihm aber die Mondstrahlen aus dem Maul und tropften wie kleine Kristalle in den Schnee. Doch es gab nicht auf, sah genau zu, wie Gaudior trank und machte es ihm nach, so gut es konnte, bis es zuletzt geschickt und durstig das Licht auffing, das aus der Mondsichel rann.
Jetzt wandte sich Gaudior dem Vollmond zu und lehrte das Neugeborene, wieder mit übertriebener Deutlichkeit, auch aus ihm zu trinken. Als der kleine Bauch schon ganz aufgebläht war, hob Gaudior das Haupt dem nächstliegenden Stern zu und zeigte dem Jungen, wie man eine Mahlzeit mit ein paar Schlückchen Sternenlicht beendet. Das Einhorn schlürfte genüßlich, ließ dann das Maul mit den winzigen, diamanthellen Zähnen zuklappen und lehnte sich, satt und zufrieden, an Gaudiors mächtige Flanke.
Jetzt erst entdeckte es Charles Wallace. Erschrocken sprang es hoch, landete ungeschickt auf allen vieren, rappelte sich mit einem ängstlichen Winseln auf und rannte in vollem Trab und mit gestrecktem Silberschweif davon.
Charles Wallace schaute ihm nach, bis es hinter dem Horizont verschwunden war. »Es tut mir leid, daß ich es erschreckt habe«, sagte er. »Wird es sich bald wieder erholen?«
Gaudior nickte beruhigend. »Es ist zu den Müttern gelaufen. Die werden ihm sagen, daß du nur eine böse Traumgestalt warst, wie man sie manchmal sieht, wenn man aus dem Ei schlüpft. Es wird dich rasch vergessen.«
Gaudior kniete sich hin. Widerstrebend kletterte Charles Wallace auf seinen breiten Rücken. Dort faßte er mit einer Hand nachlässig in die Mähne und blickte sich in der öden und doch so friedvollen Landschaft um. »Ich möchte noch nicht von hier fort.«
»Ihr Menschen wollt immer, daß das Schöne gleich in alle Ewigkeit währt. Das ist nicht möglich. Jedenfalls nicht, solange wir uns in der Zeit befinden. Und wohin befiehlst du mich jetzt?«
»Ich habe nichts mehr zu befehlen. Ich kann dir nicht einmal einen Vorschlag machen.«
»Dann gehen wir also in das Wo und Wann, in das der Wind uns trägt?«
»Und was ist mit den Echthroi?« fragte Charles Wallace.
»Da wir aus meiner Heimat aufbrechen, wird uns ihr Sturm zunächst ebenso verschonen wie auf der Reise hierher. Was uns später erwartet, werden wir schon noch sehen. Wir wurden ins offene Meer geschleudert, und obwohl ich nie gedacht hätte, daß wir ihm entkommen würden, ist es uns gelungen. Du mußt dich bemühen, keine Angst zu haben. Der Wind wird uns nach besten Kräften helfen.«
Gaudior breitete weit seine Schwingen aus und flog zwischen den beiden Monden davon, fort vom Brutplatz der Einhörner.
Meg seufzte beglückt.
»Ach, Ananda, Ananda! War das ein schönes Kythen! Wie schade, daß Charles Wallace nicht länger bleiben konnte; dort wäre er in Sicherheit gewesen.«
Ananda winselte leise.
»Ich weiß ja, daß er weiter muß. Aber die Echthroi sind hinter ihm her, und ich fühle mich so ohnmächtig…«
Ananda schaute zu Meg auf, und die kleinen, etwas dunkleren Fellwülste über den Augen wölbten sich.
Meg kraulte die Hündin zwischen den Ohren. »Immerhin haben wir ihm die Rune geschickt, als er in das Eiszeit-Meer verschlagen wurde, und so konnte der Wind ihnen helfen.«
Schon legte sie wieder die Hand auf Anandas Flanke, schloß die Augen und konzentrierte sich.
Sie sah den Sterngucker-Felsen und zwei Kinder, einen Jungen
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