Durch Zeit und Raum
Schatten. Ich würde sagen, jetzt ist es knapp vor drei und langsam Zeit, daß wir nach Hause gehen und uns eine Tasse Tee gönnen.«
Beezie lehnte sich mit dem Rücken gegen den warmen Felsen und sagte träumerisch: »Und Ma und Pa trinken mit uns, denn heute ist Sonntag und niemand ist im Laden; nur Pansy. Du, Großmutter, ich glaube, die kriegt schon wieder Junge.«
»Überrascht dich das? Von einer Katze erwartet man eben nicht nur, daß sie Mäuse fängt.«
Obwohl soeben vom Nachhausegehen die Rede gewesen war, streckte sich nun auch Chuck ins Gras und legte der Großmutter den Kopf in den Schoß, damit sie ihm zärtlich durch das Haar fahren konnte. Der laue Wind wisperte in den Blättern, in der Ferne meldete sich ein Fink; nur das heulende Brummen eines Lastwagens auf der Schnellstraße störte den Frieden.
»Wenn wir das Dorf verlassen«, sagte die Großmutter, »ist mir, als gerieten wir, kaum, daß wir über den Bach kommen, in eine ganz andere Zeit. Aber dann erinnert mich der Lärm wieder an die Wirklichkeit.« Sie wies zur Straße hinüber. »Und mir wird so manches bewußt.«
»Was denn, Großmutter?« fragte Beezie.
Die alte Frau ließ den Blick in eine unsichtbare Feme schweifen. »Ein Lastwagen auf der Straße kommt mir unwirklicher vor als die Welt zu beiden Seiten der Zeit.«
»Wie meinst du das?« wollte Chuck wissen.
»Ja, zu beiden Seiten der Zeit. Obwohl ich im Augenblick mehr über die Vergangenheit weiß als über die Zukunft.«
Beezies Augen begannen zu leuchten. »Kommen da die Geschichten her, die du uns erzählst?«
Die Großmutter nickte, immer noch ganz entrückt.
»Erzähl uns eine, Großmutter! Die, in der Königin Branwen von einem irischen König aus Britannien entführt wird.«
Die alte Frau fand wieder in die Wirklichkeit und zu ihren Enkelkindern zurück. »Wenn ich auch in Irland zur Welt kam, haben wir doch nie vergessen, daß wir von der englischen Branwen abstammen.«
»Ich bin sogar nach ihr benannt!«
»Stimmt, meine kleine Beezie – und nach mir, denn ich heiße auch Branwen.«
»Und Zillah? Mit vollem Namen bin ich Branwen Zillah Maddox.« Beezie und Chuck kannten die Geschichten ihrer Namen beinahe Wort für Wort, aber sie konnten sie nicht oft genug hören.
Meg öffnete überrascht die Augen.
Branwen Zillah Maddox. B. Z. Das sprachen die Iren wie: Be-zi aus. Beezie.
Frau O’Keefe. Das blonde Mädchen war Frau O’Keefe.
Und Chuck war ihr Bruder.
»Zillah. Der Name rührt von den Vorfahren der Maddox her«, begann die Großmutter zu erzählen. »Und es ist ein stolzer Name. Sie war die Tochter eines Häuptlings, eine Indianerprinzessin, sagt euer Vater. Aus dem Stamm, der hier einmal lebte, genau hier, wo wir jetzt sind. Aber das ist lange her; die Indianer sind längst fort.«
»Und über diese Zillah wissen wir nicht soviel wie über Branwen.«
»Nur, daß sie eine Indianerin von außergewöhnlicher Schönheit war. In der Familie eures Vaters gibt es zu viele Männer, und die Geschichten werden mittlerweile eher von den Frauen überliefert. Zu Branwens Zeit hingegen gab es noch Barden.«
»Was sind Barden?« fragte Chuck.
»Sänger und Erzähler. Ich habe die Geschichte von Branwen von meinen Großeltern gehört, aber meist hat sie meine Großmutter erzählt, oft und oft; und sie hatte sie wieder von ihrer Großmutter, und so immer weiter zurück, so weit man denken kann. England und Irland haben einander meist mißverstanden, und auch das geht weiter zurück, als man denken kann. Doch als vor langer, langer Zeit ein irischer König um die englische Prinzessin warb, dachten die Leute, jetzt endlich werde es Frieden geben zwischen den beiden schönen und fruchtbaren Reichen. Nach der Hochzeit wurde wochenlang gefeiert, und dann fuhr der irische König mit seiner Frau übers Meer nach Irland.«
»Hat Branwen denn nicht Heimweh gehabt?« fragte Beezie,
»Natürlich hatte sie Heimweh. Aber sie war als Prinzessin geboren worden, und jetzt war sie eine Königin, und eine Königin weiß sich zu benehmen – zumindest war es früher einmal so.«
»Und der König? Wie war er?«
»Oh, schön war er! So schön, wie ein Ire nur sein kann; so schön wie mein lieber Mann, wie Patrick, der dem Namen des großen Heiligen auch alle Ehre machte mit seinen schwarzen Haaren und den blauen Augen. Branwen wußte nicht, daß ihr Gemahl sie nur genommen hatte, um sich an ihrem Land und ihren Brüdern sein Mütchen zu kühlen. Das erkannte sie erst, als er
Weitere Kostenlose Bücher