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Durch Zeit und Raum

Durch Zeit und Raum

Titel: Durch Zeit und Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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plötzlich die dumme Geschichte aufbrachte, sie hätte heimlich auf einen seiner Männer ein Auge geworfen. Und um sie zu bestrafen…«
    »Wofür?« fragte Chuck.
    »Ja, wofür eigentlich? Für seine eigenen eifersüchtigen Wahnvorstellungen. Zur Strafe also ließ er sie die Schweine hüten und verbannte sie aus dem Schloß. Jetzt wußte sie, daß er sie nie wirklich geliebt hatte, und ihr Herz brannte vor Schmerz und Qual. Da beschloß sie, nach ihren Brüdern in England zu rufen, und sie nahm die Rune zu Hilfe. Keiner weiß, ob sie und die ihren die Rune schon besaßen und später an den Heiligen Patrick weitergaben oder ob ein Schutzengel sie beiden verkündet hat. Jedenfalls rief Branwen die Mächte des Himmels an…«
    Die Kinder sangen mit:
    *
    » Ich rufe die Sonne im gleißenden Brand,
    ich rufe den sanftweißen Schnee überm Land.
    Ich rufe das Feuer in lodernder Helle,
    ich rufe den Blitz in zorniger Schnelle.
    Ich rufe die Winde auf all ihren Wegen,
    und der Meere tiefe Gründe,
    und der Felsen steile Schrunde,
    und der Erde Stärke und Segen.
    Ist mir nur Gottes Hilfe gewiß,
    so ruf ich euch alle und stell mich entgegen
    wider die Mächte der Finsternis. «
    *
    Die Großmutter erzählte weiter: »Und die Sonne schien auf ihr goldenes Haar und wärmte sie; und der sanftweiße Schnee fiel und wusch den Schmutz aus dem Schweinestall, in den sie der irische König verbannt hatte; und das Feuer sprang aus dem Kamin und setzte das hölzerne Schloß in Brand; und der Blitz fuhr in sein Dach; und der Palast brannte lichterloh und schlug alle in die Flucht, die darin gehaust hatten. Und der Wind wehte aus Britannien und blähte die Segel des Schiffes, in dem ihr Bruder Bran über die tiefen Gründe der Meere zog; und er landete an den steilen Schrunden der Felsen, dort, wo die Erde stark und gesegnet war. Und Brans Männer erstürmten die Klippen und befreiten ihre geliebte Königin Branwen.«
    »Ist die Geschichte auch wirklich wahr, Großmutter?« wollte Beezie wissen.
    »Sie ist es für alle, deren Ohren hören und deren Herz glauben kann.«
    »Chuck hat ein gläubiges Herz«, sagte Beezie.
    Die Großmutter tätschelte ihm das Knie. »Ja, vielleicht wirst du einmal der Dichter, der dein Vater so gern geworden wäre. Er wurde nicht für den Krämer laden geschaffen.«
    »Ich mag den Laden«, widersprach Beezie. »Er riecht so gut nach Zimt und nach frischem Brot und nach Äpfeln.«
    »Ich habe Hunger«, sagte Chuck.
    »Wer hat denn gesagt: Gehen wir ins Haus!, ehe ihr unbedingt die Geschichte hören wolltet? He? Also helft mir gefälligst auf die Beine, ihr beiden!«
    »Wir sollten unterwegs für Ma und Pa einen Strauß pflücken«, sagte Beezie.
    Der enge Pfad war mit Geröll übersät und von hohem Gras überwuchert. Sie kamen nur mühsam voran. Großmutter stützte sich auf einen Stock, den ihr Chuck aus dem Ahorngehölz geschnitten hatte, das ohnedies längst ausgedünnt werden sollte. Chuck lief voraus und ging nur langsamer, wenn er sah, daß Beezie und die Großmutter allzuweit zurückblieben. Der Blumenstrauß in Beezies Hand wurde immer größer, denn das Mädchen blieb jedesmal stehen, wenn die alte Frau außer Atem geriet. »Schau, Chuck! Großmutter, schau! Drei so große Glockenblumen!«
    Chuck hackte mit der Pfeilspitze an den Ranken der Nachtschatten herum, die sich wie Schlangen um den Stamm einer jungen Föhre ringelten. »Erst vor einem Jahr hat Ma gesagt, daß wir das Zeug nicht aufkommen lassen sollen. Jetzt macht es sich überall breit. Wenn ich es nicht gleich ausreiße, bringt es den Baum um. Geht nur einstweilen vor, ich hole euch schon ein.«
    »Willst du mein Messer haben?« fragte Beezie.
    »Nein. Die Pfeilspitze ist schärfer.«
    Eine Weile blickte er seiner Schwester und der Großmutter nach, die sich langsam durch das Gestrüpp wanden, und sog die süße Luft ein. Die Apfelbäume grünten bereits, aber die Blüten lagen noch immer weiß und rosa auf dem Boden und dufteten wie Orangen; ein Duft, der sich mit dem Geruch des Flieders mischte. Zwar hörte Chuck die Lastwagen auf der Straße und das Flugzeug am Himmel, aber von ihrem Gestank blieb er immerhin verschont.
    Chuck mochte weder Autos noch Flugzeuge. Sie ließen bloß Abgase zurück und machten alles andere stumpf: den Duft der Sonne, des Regens, der grünenden Natur. Chuck konnte mit der Nase beinahe besser »sehen« als mit den Augen. Mühelos erkannte er seine Eltern, die Großmutter, seine Schwester allein an ihrem

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