Durch Zeit und Raum
näher noch als Zwillinge es im allgemeinen sind.«
Er nickte zustimmend. »Vor allem aber nach meinem Unfall. Du weißt ja, Zillah, erst Bran hat mich wieder ins Leben zurückgebracht.«
Sie legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. »Sollte Bran ernsthaft verwundet sein, werden jetzt wir deine Hilfe brauchen, so wie du damals die seine.«
Als Matthew vor fünf Jahren bei einem Ritt über einen Zaun gestürzt war und so unglücklich unter seinem Pferd begraben wurde, daß es ihm das Becken und die Beine zerschmetterte und das Rückenmark quetschte, hatte Bran für seinen Zwillingsbruder kein Mitleid gezeigt. Statt dessen zwang er ihn geradezu, sich nicht aufzugeben oder sich auf fremde Hilfe oder fremden Zuspruch zu verlassen.
»Aber Rollo konnte sonst über Zäune setzen, die doppelt so hoch sind.«
»Diesmal hat er es nicht getan.«
»Bran, unmittelbar bevor Rollo in den Zaun krachte, war da plötzlich ein ganz furchtbarer, ein unbeschreiblicher Gestank…«
»Hör auf, über solche Fantasien zu grübeln. Denk lieber daran, wie du von nun an zurechtkommst.«
Sie blieben unzertrennlich – bis der Krieg ausbrach. Da gab Bran sich für älter aus und ging zur Kavallerie. Diesem Beispiel konnte Matthew nicht folgen.
»Bran hat auch für mich gelebt«, sagte Matthew zu Zillah.
»Und ich lebte durch ihn. Als er in den Krieg zog, hat er mich zum ersten Mal verlassen.« Er fuhr fort: »Schon als du und Bran euch ineinander verliebt hattet, begriff ich, daß ich ihn nicht länger an mich binden durfte, daß ich lernen mußte, mir mein Leben irgendwie selbst einzurichten – damit er frei sein konnte. Und es war leichter, ihn für dich freizugeben als für irgendeinen beliebigen Fremden. Denn auch du hast mich immer als vollwertigen Menschen behandelt, und ich wußte, daß ihr beiden mich nicht aus eurem Leben ausschließen werdet.«
»Nie, Matt, mein Lieber. Nie. Und du hast dir ja auch dein eigenes Leben geschaffen. Du verkaufst deine Erzählungen und Gedichte; und ich finde, du schreibst nicht schlechter als der berühmte Mark Twain.«
Matthew lachte, und für einen Augenblick löschte das warme Lachen die schmerzlichen Falten aus seinem Gesicht. »Ich bin nur ein blutiger Anfänger.«
»Aber die Leute bei der Zeitung schätzen deine Arbeiten, und auch mein Vater hält sie für ausgezeichnet.«
»Das höre ich gern. Ich gebe viel auf Dr. Llawcaes Urteil.«
»Und er mag dich und Bran und Gwen, als wäret ihr meine leiblichen Geschwister. Und nach dem Tod meiner lieben Mutter trat die deine an ihre Stelle. Sogar unsere Väter gleichen einander wie ein Ei dem anderen, obwohl es zwischen den beiden Familien kaum je eine Verbindung gab. Das kommt von ihrer gemeinsamen Leidenschaft für Wales. – Matt, hast du zu Gwen oder deinen Eltern über Bran gesprochen?«
»Nein. Sie wollen nichts davon hören, daß Bran und ich ohne Worte oder Briefe voneinander wissen. Sie behaupten, das sei nur ein dummes Spiel, das wir uns ausgedacht haben – so wie wir als Kinder zum Spaß die Rollen tauschten, um die Leute zu narren. Sie sagen, so etwas könne es nicht geben.«
»So etwas gibt es. Daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt.« Zillah lächelte. »Ach, Matt, ich glaube, ich liebe dich fast so sehr wie Bran.«
Eine Woche später erhielt Herr Maddox die offizielle Benachrichtigung, daß sein Sohn in der Schlacht verwundet worden sei und man ihn als Invaliden nach Hause entlassen würde. Er versammelte die Seinen in der stets düster wirkenden Bibliothek, um ihnen die betrübliche Mitteilung zu machen.
Frau Maddox schwenkte ihren schwarzen, spitzenbesetzten Fächer und sagte: »Gott sei Dank.«
»Wie?« rief Gwen aufgebracht. »Du freust dich noch darüber, daß Bran verwundet wurde?«
»Das natürlich nicht, mein Kind.« Frau Maddox fächelte sich weiterhin Luft zu. »Aber ich danke Gott, daß er Bran am Leben erhielt und daß unser Junge nach Hause kommt, ehe ihm etwas Schlimmeres widerfährt als ein Schuß ins Bein.«
Es ist etwas Schlimmeres, Mutter! dachte Matthew insgeheim. Denn zum ersten Mal hat Bran mich aus seinen Gedanken ausgeschlossen. Er läßt mich nichts empfangen, nur einen dumpfen, tödlichen Schmerz. Gwen hat mehr recht als sie glaubt, wenn sie meint, daß es keinen Grund zur Freude gibt.
Nachdenklich betrachtete er seine Schwester. Sie hatte dunkles Haar und blaue Augen, wie Zillah, und die beiden sahen eher wie Geschwister aus als wie weit entfernte Kusinen. Doch Gwens Gesicht war nicht
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