Durch Zeit und Raum
Fürs erste waren sie den Echthroi entkommen, und als Gaudiors Hufe erneut den Boden berührten, war die Projektion verschwunden.
»Diese beiden Männer mit ihren Gewehren«, sagte Charles Wallace. »Hätten sie uns auch in einer Projektion töten können?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Gaudior. »Und eigentlich will ich es auch gar nicht wissen.«
Erleichtert schaute sich Charles Wallace um. Als er Chuck verlassen hatte, war Herbst gewesen, und schon hatte der kalte Wind begonnen, die Bäume kahlzufegen. Hier, jetzt, in diesem Wann und Wo, war Frühling. Die alten Apfel- und Birnbäume standen in voller Blüte, und die Luft roch nach Flieder. Ringsum musizierten aus voller Kehle die Vögel.
»Und was tun wir jetzt?« fragte Charles Wallace.
»Sieh an! Hast du doch endlich gelernt zu fragen, statt große Weisheiten von dir zu geben!« Gaudior war wesentlich unhöflicher als sonst – für Charles Wallace ein deutliches Zeichen, daß das Einhorn diesmal auch wesentlich mehr Angst hatte.
Meg schauderte. Kythend sah sie den Sterngucker-Felsen an einem goldenen Sommertag. Zwei Menschen standen auf dem Felsen: eine junge Frau und ein junger Mann – oder ein Knabe? Das konnte Meg nicht mit Gewißheit erkennen, denn irgend etwas an ihm stimmte nicht.
Immerhin ließ sich aus der Kleidung darauf schließen, daß sie sich ungefähr im Jahr 1865 befanden, zur Zeit des ausgehenden Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges.
Diesmal ging Charles Wallace nicht, wie sonst, augenblicklich nach Innen , sondern in einem mühsamen, geradezu qualvollen Prozeß. Er bekam unerträgliche Schmerzen im Rücken, und seine Beine waren wie zerschmettert. Charles hörte sich schreien. Sein Körper wurde in einen anderen gezwungen und gleichzeitig wieder herausgerissen. Zwei entgegengesetzte Kräfte kämpften miteinander und drohten ihn zu zerreißen. Erst brannte die Sonne, dann kam ein heulender Schneesturm, dann wurde der Schnee von wilden Feuern aufgefressen; heftig zuckten die Blitze, und ein Sturm peitschte über Land und Meer…
Und endlich hatte Charles Wallace sich selbst aufgegeben und war Innen – in einem verkrüppelten Leib, im Körper eines jungen Mannes mit nutzlos gewordenen Beinen, die auf Kindergröße geschrumpft waren: in Matthew Maddox.
Von der Hüfte aufwärts glich er Madoc, war wohl auch in dessen Alter, und sein Gesicht mit der blonden Löwenmähne trug Madocs stolze Züge. Aber der Körper war nicht stark und drahtig. Und die Augen waren grau. Grau wie das Meer vor dem Regen.
Ernst betrachtete Matthew die junge Frau – auch sie war etwa so alt wie er; nur ihre Augen wirkten um vieles jünger.
» Croeso f’annwyl, Zillah !« Das war Walisisch und klang liebevoll und erleichtert zugleich: »Ich danke dir, daß du gekommen bist, Zillah!«
»Du wußtest doch, daß ich kommen würde. Als mir Jack O’Keefe deine Nachricht brachte, habe ich mich gleich auf den Weg gemacht. Wie bist denn du hergekommen?«
Er wies auf einen kleinen Wagen, eher ein Brett auf Rädern, das neben dem Felsen stand.
Sie musterte seinen schmächtigen Leib. Nur die Arme und Schultern waren wohlgebildet und muskulös. »Aus eigener Kraft?« fragte sie. »Den ganzen Weg?«
»Nein. Ich kann es, aber das kostet viel Zeit, und ich mußte mich am Vormittag noch um die Geschäftsbücher kümmern. Als ich zum Stall ging, um Jack die Nachricht für dich zu geben, schluckte ich meinen Stolz und bat ihn, mich herzuschieben.«
Zillah strich ihr Kleid mit den weiten, weißen Unterröcken über dem Felsen glatt. Sie trug einen breitkrempigen Hut mit blauen Schleifen, der ihr glattes, schwarz glänzendes Haar um so mehr zur Geltung brachte, und ein Medaillon an einem blauen Halsband. Für Matthew Maddox war sie die schönste, begehrenswerteste und – für ihn – am wenigsten erreichbare Frau auf Gottes weiter Erde.
»Matt, was ist geschehen?« fragte sie.
»Bran muß etwas widerfahren sein.«
Sie erbleichte. »Woher weißt du das? Bist du sicher?«
»Heute nacht hat mich ein quälender Schmerz in den Beinen aus dem tiefsten Schlaf gerissen. Es waren nicht meine gewohnten Schmerzen; sie gehörten vielmehr zu Bran. Und er rief nach mir und flehte mich an, ihm zu helfen.«
»Gütiger Himmel! Wird er davonkommen?«
»Er lebt. Er hat den ganzen Tag versucht, mich zu erreichen.«
Sie vergrub das Gesicht in den Händen, und ihre Stimme klang dumpf darunter hervor: »Danke, daß du es mir gesagt hast. Du und Bran, ihr seid euch immer so nahe gewesen;
Weitere Kostenlose Bücher