Durst: Thriller (German Edition)
betrachtet. Für die Erde hatte ich keinen Blick, und folglich habe ich die Fährten auch nicht gesehen. «
Netto fand, dass sich sein Chef zu sehr von der Metaphorik des Alten mitreißen ließ. » Wenn ich mir die Anmerkung erlauben darf, Doktor, dann haben Sie doch wohl das getan, was jeder getan hätte, wenn es eine schwierige Phase zu bewältigen gilt: Sie haben Unterstützung für ein eigentlich gesundes Unternehmen gesucht. «
» Ja, Antônio, aber gesund ist es nur auf dem Papier. «
Im Gesicht des Anwalts spiegelte sich Bestürzung.
Paulão trank einen Schluck Whisky und kehrte an seinen Schreibtisch zurück.
» Das gilt für unser gesamtes Wirtschaftssystem. Nenn es ruhig kapitalistisch, obwohl das meines Erachtens die Idee gar nicht mehr trifft. Das Wort ist bedeutungslos, weil es kein Kapital mehr gibt. Unser ganzes System basiert auf Lügen, auf einer Verkettung von Lügen. Was bleibt uns anderes übrig, als immer wieder zu lügen? Wir lügen, wenn es um die Methoden geht, mit denen wir die Konkurrenz ausschalten, wir belügen den Fiskus, wir lügen uns unsere Bilanzen zurecht, wir belügen unsere Teilhaber, wir belügen unsere Mitarbeiter. Gerade unseren Mitarbeitern erzählen wir einen Haufen Unsinn, vom Tag der Einstellung bis zu dem Tag, an dem wir sie wieder feuern… «
Er starrte Netto an, dann wandte er den Blick ab und fuhr fort. » Wir belügen unsere Kunden, ja wir belügen sogar jene, die nicht unsere Kunden sind, da unsere Werbung alle Menschen erreicht. Das Erstaunlichste ist, dass wir auch jene Instanz belügen, die sich für den Hüter der Demokratie hält, nämlich die Presse. Schamlos belügen wir die Journalisten, indem wir ihnen ständig falsche Pressekommuniqués, frisierte Daten und geschönte Prognosen unterjubeln… Und trotzdem halten die sich immer noch für die Wächter des Friedens und der gesellschaftlichen Moral. « Paulão lachte bitter. » Eines musst du begreifen, Antônio. Die großen Unternehmen wie wir sind die eigentlichen Staaten. Wir sind es, die regieren. Als dieser Gewerkschafter gewählt wurde, dieser Lula, hat er sich nicht mit unseren vier erbärmlichen Nachbarstaaten herumschlagen müssen, sondern mit uns. Mit uns musste er sich an einen Tisch setzen, um sein Regierungsprogramm festzulegen. Und auch seine Außenpolitik musste er mit uns abstimmen. Neu ist einzig– und ich gebe gern zu, dass man das nicht unterschätzen darf–, dass dieser Arbeiter nicht mit unserer Hilfe gewählt wurde. Normalerweise entsteht eine solche Allianz– die eigentlich keine Allianz ist, sondern eher eine Form von Erpressung– vor der Wahl, um dann Früchte zu tragen. Dieses Mal war es andersherum, was nur eines bedeuten kann: Dieser Populist ist pragmatischer und ehrgeiziger, als wir uns das je hätten träumen lassen, und das ist auch gut so. Ein ehrgeiziger Mann ist manipulierbar, ein Korinthenkacker oft nicht. « Er machte eine Pause und trank. » Und jetzt sind wir so weit, dass er sogar mit unserer Hilfe wiedergewählt werden wird. Hast du den Typen bemerkt, der vorhin aus meinem Büro kam? «
» Ja. Den habe ich hier noch nie gesehen. «
» Klar, der arbeitet auch eher im Hintergrund. Er hat eine Beratungsfirma mit Sitz in Brasilia und bezeichnet sich als PR -Stratege. Weißt du, was das bedeutet? «
» Ich kann es mir denken. Er wird ein Stimmenfänger der Opposition sein, wenn er hier vorstellig wird. «
» Da irrst du dich. Er kommt nicht von der Opposition. «
Netto schaute Paulão erstaunt an.
Johannsen wirkte genauso überrascht. » Tja… 2002 hatten wir noch nicht begriffen, dass wir es mit einem skrupellosen Aufsteiger zu tun haben. Ich verrate dir etwas, Antônio– etwas ziemlich Unangenehmens: Lula ist leider ein Genie. Er weiß, wo es langgeht. Und möchtest du wissen, warum die Leute ihn lieben? Weil er das, was er versprochen hat, auch hält. «
Netto war nicht überzeugt. Es gab genug Enttäuschte, die Lula vorwarfen, dass er seine Versprechen nicht halte.
» So ist er eben, eine schlichte Natur « , fuhr Paulão fort. » Hat Lula etwa versprochen, mit dem Drogenhandel und der Gewalt in den Städten aufzuräumen? Nein. Dabei gibt es in Brasilien jedes Jahr vierzigtausend Tote durch Schusswaffengebrauch. Das ist das Vierfache gegenüber dem Irak und Afghanistan zusammen, und daran hat sich auch nichts geändert, seit er an der Macht ist. Und weiter: Hat Lula zufällig versprochen, das ausländische Kapital rauszuschmeißen? Nein: Wir sind immer
Weitere Kostenlose Bücher