Durst: Thriller (German Edition)
nicht bis zur Wasseroberfläche reichen. Am liebsten hätte er sich vorgebeugt, um in den Abgrund zu schauen, aber er wusste von jemandem, der das getan hatte, und der war nie zurückgekehrt, um davon zu berichten.
War das also das wilde Glück, die Welt in der Hand zu haben, so wie man einen türkisfarbenen Drachen in der Hand hat? Er beugte sich vor und starrte ins Dunkel, aber das Gefühl hatte nichts mit dem zu tun, was er sah, sondern eher mit dem Geruch und dem Wind. Mit dem, was er immer schon gekannt und geatmet hatte.
Plötzlich wurde der Draht schlaff.
» Da « , sagte Leo. » Wir sind am Ziel. Die Sonde hat das Wasser berührt. «
Der Drache fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe.
» Jetzt vorsichtig ziehen, Doktor. «
Leo drückte ihm das Ende des zweiten Drahts in die Hand, und der Drache zog, ein trockener Ruck. Jetzt floss die Flüssigkeit aus der Sonde heraus. Er konnte es nicht sehen, aber es war, als würde sie langsam aus seinen Venen hervorsprudeln. Der Drache schloss die Augen und neigte den Kopf in den Abgrund. Die Luft war frisch. Sie wirbelte um seine ausgestreckten Arme herum und zauste an seinen weißen Haaren. In den Bäumen erscholl der Schrei eines Riesentukans. Ein schwarzer Blitz, von flammendem Orange und Neongrün durchzogen. Der Drache riss die Augen auf und sah den majestätischen Flügelschlag im selben Moment, als der Vogel in den niedrigen Wolken über den Baumwipfeln verschwand. Er lächelte, und während er noch lächelte, verlor er das Gleichgewicht und starrte in den finsteren Abgrund. Leo packte seinen Arm, die Hand ein stählerner Schraubstock.
» Passen Sie doch auf! « , schrie der Geologe und stemmte die Füße in den Kraterrand. » Die Sonde ist leer. Wir können sie wieder hochziehen, los. «
Innerhalb einer Minute hielten sie die silbrige Sonde wieder in den Händen. Sie war leer und tropfte.
Der Drache trat zwei Schritte zurück.
» Der blinde Narziss ist frei « , sagte er.
Dann schloss er die Augen und dachte an nichts mehr.
Epilog
Die Nachricht überbrachte ihm Antônio Netto in Begleitung eines Beamten der Bundespolizei. Paulo Henrique Johannsen saß am Schreibtisch, hörte sich den Bericht an und starrte auf die Mattglasscheiben in seinem Arbeitszimmer.
Innerhalb kürzester Zeit organisierten sie einen Flug nach Rio de Janeiro, mit dem schnellsten Hubschrauber ihrer Flotte. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass die Nachricht an die Presse gelangte. Brunos Leiche lag in der Gerichtsmedizin in einem heißen, stinkenden Raum neben den Körpern der getöteten Drogenhändler– Körper ohne Namen bislang, und das war ihr Glück. Antônio Netto brauchte eine Stunde, dann hatte er die Leiche. Ihre Identität wurde gegen die eines Drogenhändlers ausgetauscht. Nun konnten sie nach São Paulo zurückfliegen.
Paulos Aufgabe war es, seiner Frau und seinem Vater die Nachricht von Brunos Tod zu übermitteln. Elisabetta brach sofort nach São Paulo auf, während der alte Josef schweigend zuhörte und dann den Hörer auflegte. Er schloss sich daheim ein und verließ das Haus nicht mehr. Ein paar Stunden später erhielt er einen Anruf von Augusto Miller, der ihm wenige Tage darauf einen Besuch abstattete. Sie führten ein langes Gespräch.
Matheus hatte die Nacht zur Kontrolle in einer Klinik in Botafogo verbracht. Er hatte ein paar Kratzer und ein dumpfes Klopfen im Schädel. Sarah Clarice wich nicht von seiner Seite.
Nachdem sie die Klinik verlassen hatten, kehrten sie ins Hotel zurück. Während des Frühstücks, bei dem er fast nichts aß, erzählte Matheus, was in der Favela geschehen war. Sarah Clarice hörte wortlos zu. Dann wollte sie Matheus einen Kuss geben, aber der drehte sich weg.
» Besser nicht, Sarah Clarice. Lass uns die Geschichte jetzt beenden. « Er hatte Protest erwartet, aber sie lächelte und strich ihm über den Kopf. » Du hast recht. Mir ist es auch lieber so. «
Schweigend tranken sie ihren Kaffee, dann umarmten sie sich, und Sarah Clarice verschwand im Aufzug.
Eines war da allerdings noch…
Sehr früh am Morgen waren zwei Wagen der Bundespolizei auf das Gelände der Fazenda Yaraibi gefahren und hatten auf dem Platz vor dem Herrenhaus angehalten. Ein Offizier hatte dem Verwalter den Bescheid über die vorläufige Beschlagnahme des Besitzes gezeigt. Nachmittags kamen auch noch die Inspektoren der Ibama– der brasilianischen Behörde für die Kontrolle des Naturschutzes– und stoppten die von Hector
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