Dustlands - Der Herzstein: Roman (German Edition)
begonnen, die entzündete Wunde zu säubern. Das mache ich hier auch.«
»Ich hab das alles nur für meinen Bruder getan«, sag ich.
»Du und ich, wir sind bereit, die schwierigen Entscheidungen zu treffen, die getroffen werden müssen«, sagt er. »Und dementsprechend zu handeln.«
Ich denk an Epona. »Ja«, sag ich.
»Wir tun, was getan werden muss«, sagt er, »im Dienst einer Sache, die größer ist als wir selbst. Glaub nicht, ich hätte kein Gewissen, glaub nicht, ich würde mich nicht ständig in Frage stellen und an mir zweifeln. Das tue ich sehr wohl. Die Folgen meiner Entscheidungen, meiner Handlungen … Mitten in der Nacht liege ich wach und denke über das alles nach. Aber es kann nicht so weitergehen wie bisher. Das verstehst du doch?«
»Ja.«
»Als ich dich zum ersten Mal sah«, sagt er, »sah ich dir in die Augen, nur einen Moment lang.«
»Ich erinner mich«, sag ich.
»Und ich erkannte dich. Als die, die du wirklich bist. Die du sein kannst. Du bist außergewöhnlich. Denk an das, was du schon getan hast. Jetzt stell dir vor, was du noch tun könntest. Du hast gerade erst begonnen zu entdecken, wozu du fähig bist. Sag mir, wie fühlt sich das an? Die eigenen Ängste und Schwächen zu bezwingen. Im Käfig zu gewinnen, immer wieder, trotz der schlechten Aussichten. In deiner eigenen Kraft auf dem Gipfel eines Hügels zu stehen.«
Ich kann die Augen nicht von ihm losreißen. Sein Gesicht ist so schön. Seine Stimme klingt so schön. Und mir wird heiß überall da, wo er mich berührt. Der Faden zwischen uns strafft sich immer mehr.
»Es fühlt sich richtig an«, sag ich. »Ich fühl mich … richtig.«
»Das ist die Kraft, die die Welt verändert. Wenn du das für deinen Bruder tun kannst, stell dir vor, was du für die Erde tun könntest. Um etwas von den Wundern, die du dort drin gesehen hast, zurückzuholen – und sei es auch nur einen winzigen Teil.«
»Es hat mich so … traurig gemacht«, sag ich. »Als wär jemand, den ich lieb hab, gerade gestorben. Ich weiß, was ich eben gesagt hab, aber ich bin doch froh, dass ich das gesehen hab.«
»Trauer zu empfinden ist in Ordnung«, sagt er. »Es ist richtig. Aber du musst diese Gefühle auch nutzen, sie in Handlungen umsetzen. Genauso wie du es für deinen Bruder getan hast. Du besitzt solche Kraft, solchen Mut, solche Macht. Ich hätte dich niemals ertrinken lassen«, sagt er. »Ich habe auf dich gewartet.«
»Auf mich gewartet«, sag ich.
»Mein ganzes Leben lang«, sagt er.
Er beugt sich zu mir. Langsam. Sehr langsam, damit ich mich wegdrehen kann, falls ich will. Ich tu’s nicht. Er küsst mich. Süß und sanft.
Ich spür einen Wassertropfen auf dem Gesicht. Dann gießt es in Strömen. Die Sonne scheint, aber es gießt in Strömen. Ich schüttel den Kopf, blinzel überrascht.
Er lacht. Dann nimmt er meine Hand, und wir laufen los.
W ir sausen in sein Zelt, schütteln uns wie Hunde, keuchen und lachen ein bisschen. Er nimmt ein Tuch und rubbelt sich schnell über die Haare. Dann wirft er es mir zu und gießt Wein in unsere Gläser. Er hält mir eins hin, und ich geh zu ihm und nehm es. Mein Herz macht einen Satz. Er ist mir so nah. So warm. Bei seinem Geruch – feucht und grün – überläuft es mich heiß und kalt. Auf einem kleinen Tisch liegen drei Bücher.
»Du hast Bücher«, sag ich. »Ich hab schon mal eins gesehen.«
»Bücher sind sehr selten. Sie sind sehr empfindlich, nicht viele haben überlebt. Soll ich dir etwas vorlesen?« Behutsam nimmt er eins in die Hände.
»Ich weiß nicht«, sag ich. »Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
Er klappt es auf, schlägt ein paar Papierblätter um und fängt an zu reden.
»Einst war die Zeit, da schien mir Strom und Baum,
Die Erde, jedes grüne Feld,
Der Weltenraum
Von Himmelslicht erhellt,
In Glanz und Frische wie ein Traum.
Jetzt ist es nicht wie einstmals um mich her,
Wohin ich gehen mag
Bei Nacht und Tag,
Die Dinge, die ich sah, ich sehe sie nicht mehr.«
Er schweigt. Er hat langsam gesprochen, hat jedes Wort in der Luft schweben lassen, als wär es kostbar. Mein Herz ist nicht groß genug, um diese Schönheit aufzunehmen. Es tut weh von dem Versuch. Er klappt das Buch zu. Er guckt hoch, guckt mich an.
»Du hast ausgesprochen, was ich fühl«, sag ich. »Über das, was ich da drin gesehen hab. Wenn ich solche Worte in mir hätte, genau das hätte ich auch gesagt. Woher hast du das gewusst?«
Plötzlich stürz ich zu ihm, und dann küss ich ihn.
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